Erstlingsfilme ausgezeichnet - Kinderschicksale als Spiegel der Welt

Ein Bericht vom 22. Internationalen Film Festival Fribourg von Hans Hodel, Bern

Am 22. Internationalen Film Festival Fribourg, das vom 1.-8. März 2008 stattfand, vergab die Ökumenische Jury von INTERFILM und SIGNIS den von Brot für Alle und Fastenopfer mit CHF 5'000 dotierten Preis an das Spielfilmdebüt El Camino von Ishtar Yasmin (Costa Rica). Der Film, der auch den Spezialpreis der Internationalen Jury erhielt, erzählt auf dem Hintergrund von Armut und sexueller Ausbeutung schlicht und ohne Pathos, aber aufgelockert mit einigen surrealistischen Elementen die Migrationsgeschichte der zwölfjährigen Saslaya und ihres jüngeren stummen Bruders Dario auf der Suche nach ihrer Mutter, wobei sie vom Regen in die Traufe geraten. Eine Lobende Erwähnung vergab die Ökumenische Jury an den Dokumentarfilm He Fengming von Wang Bing (China), dem bewegenden Porträt einer chinesischen Frau, der von der Internationalen Jury mit dem Preis Oikocredit ausgezeichnet und auch von der FICC lobend erwähnt wurde.

Das Internationale Filmfestival Freiburg FIFF positioniert sich weiter als eines der grössten Publikumfestivals der Schweiz. Mit 25’500 Eintritten in den Kinosälen (wovon 8'800 auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene entfallen, die das Festival im Rahmen von 53 Sondervorführungen in Freiburg, Bulle und Payerne unter dem Titel „Planète Cinéma“ besucht haben) und 2'400 Teilnehmenden an den Rahmenveranstaltungen, bleiben die Zahlen des FIFFs gegenüber dem Vorjahr erfreulicherweise stabil. Damit geht das Festival gestärkt aus der Krise hervor, die vor einem Jahr nach dem Rücktritt des langjährigen künstlerischen Leiters Martial Knaebel Anlass zu Diskussionen gegeben hat. Der neue künstlerische Leiter Edouard Waintrop, ein renommierter französischer Filmkritiker, der vor allem durch seine Mitarbeit bei der Zeitung „Libération“ und  zahlreichen Publikationen u.a. über afrikanische Filmemacher bekannt geworden ist, hat das Profil des Festivals innerhalb kurzer Zeit neu akzentuiert und mit der diesjährigen Ausgabe ein überzeugendes Programm präsentiert. Die ehemalige Freiburger Staatsrätin Ruth Lüthi als neue Präsidentin des Festivals vermochte nicht nur erfolgreich bei den Behörden von Stadt und Kanton Fribourg für die weitere Unterstützung des Festivals zu werben; zusammen mit der administrativen Direktorin Franziska Burkhardt gelang es ihr, die von der Sektion Film des Bundesamtes für Kultur verfügte Reduktion des finanziellen Beitrags mit zusätzlichen Mitteln der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA zu kompensieren. Mit ihrer Präsenz und pointierten Rede an der Eröffnung des Festivals unterstrich Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in Gegenwart von Nicolas Bideau, Chef der Sektion Film des BAK, die Bedeutung des FIFF für die kulturelle Vielfalt in der Schweiz. Was sich in der Welt ereigne, sei nicht ohne Bedeutung für die Schweiz, sagte sie, und unterstrich den Stellenwert des interkulturellen Dialogs, der in der Beschäftigung mit dem Film aus den Ländern des Südens besonders konkret zum Ausdruck komme. In diesem Sinne äusserte sich zuvor auch die Freiburger Bildungs- und Kulturdirektorin Isabelle Chassot, mehr oder weniger direkt an die Adresse von „Monsieur cinéma“, er möge die neue Dynamik und den Enthusiasmus des FIFF zur Kenntnis nehmen und entsprechend würdigen.

Neue Akzente und neue Treffen zwischen Branchenvertretern

Erstmals wurde das Festival nicht nur in den bisherigen drei Sälen des Kino Rex durchgeführt, sondern auch in einigen unterirdischen Sälen des neuen Multiplex Cap’Ciné, das seit einigen Monaten in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof besteht. Zudem stand als neuer Begegnungsort mit Empfangsräumlichkeiten und einem Café-Restaurant das charmante alte renovierte Bahnhofsgebäude („Ancienne Gare“) zur Verfügung, wo das Festival-Team jetzt das ganze Jahr über untergebracht ist.

Zu sehen gab es mehr als hundert Filme (weitgehend Schweizer Premieren), nicht nur Filme aus aller Welt („films de toutes origines“), sondern in allen Sektionen auch aus allen Genres, speziell aber in den Sektionen „Film und Revolution“, „Noir total“ mit südlichen und fernöstlichen Thrillern, „L’amour global“ mit Liebesgeschichten aus aller Welt sowie einer Retrospektive mit Filmen des südkoreanischen Regisseurs Lee Chang-dong. Zu diesen Sektionen gab es spezielle Forum-Diskussionen. Dazu gehörte auch eine viel beachtete Master Class mit Walter Salles über die Entwicklung des Roadmovie. Neu hat das Internationale Filmfestival Freiburg Treffen rund um Filmprojekte organisiert. Einige der anwesenden Filmemachenden und Produzenten haben im Rahmen von «Meetings on Film Projects» ihre Projekte vorgestellt und mögliche Kooperationen gesucht.

Es fanden individuelle und speziell arrangierte Treffen zwischen den Projektverantwortlichen und 13 Branchenvertretern (Produzenten, Vertretern von Koproduktions-Plattformen, Verleihern, internationalen Verkäufern und einem Drehbuch-Berater) statt. Für die sechs ausgewählten Projekte konnte eine Form der Zusammenarbeit gefunden werden. Diese Initiative des Internationalen Filmfestivals Freiburg soll in den kommenden Ausgaben erneut stattfinden und weiterentwickelt werden, je nach Zusammensetzung der anwesenden internationalen Vertretungen.

Die ausgezeichneten Filme: Kinder und Jugendliche im Blickpunkt

Insgesamt dreizehn Filme umfasste der offizielle Wettbewerb, wobei einzig China mit zwei Filmen vertreten war. Darunter gab es solche mit einer explizit politischen Thematik. Matar a Todos von Esteban Schroeder (Uruguay) erzählt auf dem Hintergrund des Verschwindens eines Chemikers von Pinochets Geheimpolizei die Geschichte einer unerschrockenen Untersuchungsrichterin. Im Dokumentarfilm Recycle von Mahmoud al Massad (Jordanien u.a.) steht der ehemalige Afghanistankämpfer und Autor über den Dschihad, Abu Ammar, im Mittelpunkt und fordert zu differenzierter Wahrnehmung auf. DP75 Tartina City von Serge Issa Coelo (Tschad/Frankreich) konfrontiert am Beispiel des Schicksals des Journalisten Adoum mit den Foltermethoden der Militärdiktatur im Tschad der 90er-Jahre.

In den von den Jurys ausgezeichneten Filmen stehen weitgehend Kinder und Jugendliche mit ihren problematischen Familienverhältnissen im Mittelpunkt. Der «Regard d’Or» der Internationalen Jury geht an Flower in the Pocket (Eine Blume in der Tasche) des 29-jährigen malaysischen Regisseurs Liew Seng Tat – es ist sein erster Spielfilm. In dieser Geschichte von zwei Buben, die ohne Mutter aufwachsen und vom Vater vernachlässigt werden, weil er sich angesichts des Verlusts seiner Frau in die Arbeit flüchtet, gehen die Schwere und der Humor Hand in Hand, die Hoffnung keimt aus den Schwierigkeiten des Alltags. Am Ende bekommt der Film eine tröstliche Wende; der Vater besinnt sich auf seine Verantwortung gegenüber seinen Kindern und ändert seinen Lebensstil. Die Internationale Jury hebt hervor, dass Liew Seng Tat «auf eine zärtliche und poetische Art auf eine komplexe und reiche Eigenheit seiner Gesellschaft blickt, ohne dabei das filmische Abenteuer zu vergessen».

Die Internationale Jury hat Das Mädchen der schwarzen Erde von Jeon Soo-il lobend erwähnt und dabei vor allem die Darstellung der jungen Schauspielerin hervorgehoben. Der südkoreanische Regisseur erhält ebenfalls den Preis der FIPRESCI-Jury (Internationale Vereinigung der Filmjournalisten) sowie den «Don Quijote»-Preis der FICC-Jury (Internationale Vereinigung der Filmclubs). Der Film konfrontiert den Zuschauer mit den Veränderungen in der tristen Landschaft eines Minen-Bergwerk, wo ein Mineur wegen einer Lungenerkrankung seine Arbeit aufgeben muss und sich in der Folge verschiedener unglücklicher Umstände in Depression und Alkohol verliert und seine beiden Kinder allein lässt.

Die Internationale Jury vergibt auch den Preis Oikocredit Schweiz. Er geht an He Fengming (Fengming, Chronik einer chinesischen Frau; Bild unten) von Wang Bing (China). Dieser Dokumentarfilm, der allein durch die Erzählung einer Frau ein halbes Jahrhundert Geschichte des maoistischen Chinas rekonstruiert, erhält je eine lobende Erwähnung der FICC-Jury sowie jene der Ökumenischen Jury, die den Mut von Wang Bing und seiner «quasi konzeptionellen filmischen Installation» hervorhebt.

Still aus "He Fengming" ("Fengming: A Chinese Memoir")

Der Publikumspreis geht aufgrund einer eindeutig klaren Wahl an La Zona des Mexikaners Rodrigo Plá. Dieser Thriller, in welchem jugendliche Protagonisten die Hauptrolle spielen, zeigt das krankhafte Sicherheitsdenken einer Gated Community in Mexiko City, die einen kollektiven Rachefeldzug gegen einen jungen Eindringling unternimmt. La Zona, im Verleih bei Frenetic Films, wird in den kommenden Monaten in die Kinos kommen. Soweit bekannt, wird neben La Zona auch der Abschlussfilm des diesjährigen FIFF, A Thousand Years of Good Prayers von Wayne Wang (USA/Japan), im Verleih bei Cineworx, in die Schweizer Kinosäle kommen.

Preis der Ökumenischen Jury für El Camino

Der mit dem Spezialpreis der Internationalen Jury ausgezeichnete Film El Camino von Ishtar Yasin aus Costa Rica erhielt ebenfalls den Preis der Ökumenischen Jury, die in ihrer Begründung unterstreicht, dass «die Regisseurin ohne Pathos oder unnütze Lehrhaftigkeit ein wahres Märchen entwickelt, dessen poetische Umsetzung durch rein filmische Mittel erreicht wird». In seinem Entstehungsprozess wurde er in Guadaljara Mexiko 2007 mit dem SIGNIS-OCLACC Award gefördert und im Rahmen des Internationalen Forums des Jungen Films in Berlin 2008 erstmals an einem Festival präsentiert.

Der Film erzählt eine Geschichte im Kontext der weltweiten Migrationsthematik infolge von Armut, Ausbeutung und Unterdrückung, unter welcher vor allem auch wehrlose Kinder leiden. Die vierzigjährige Regisseurin Ishtar Yasin, als Tochter eines irakischen Vaters und einer chilenischen Mutter in der Sowjetunion geboren, hat nach Studien am Filminstitut in Moskau von 1979 bis 1980 in Nicaragua gelebt, und es hat sie sehr beschäftigt, dass die Menschen dazu bereit waren, ihr Leben zu riskieren, um Nicaragua auf der Suche nach Arbeit zu verlassen. Der Ausspruch eines Emigranten „Die Grenzen sind für die Armen gemacht, reiche Leute können fliegen“ ist einer der Gründe, welche die Regisseurin dazu bewegt haben, zusammen mit Tausenden von illegalen nicaraguanischen Immigranten eine Reise an die Grenze des Landes zu unternehmen und den Film El Camino, eine costaricanisch-nicaraguanisch-französische Co-Produktion zu drehen, ein bewundernswerter Entschluss angesichts der Tatsache, dass es in diesen zentralamerikanischen Ländern kaum Geld für die Herstellung von Filmen gibt.

Im Mittelpunkt des Films stehen die zwölfjährige Saslaya und ihr jüngerer stummer Bruder Dario. Sie leben beim Grossvater in Nicaragua, seit ihre Mutter vor acht Jahren zur Arbeitssuche nach Costa Rica gegangen ist. Eines Tages entscheidet sich Saslaya, die nach der Schule in den Müllbergen arbeiten muss und nachts zu ihrem Grossvater in die Hängematte gerufen wird, mit ihrem Bruder auf die Suche nach der Mutter aufzubrechen. Sie reisen von Managua nach Granada, über den See, entlang des Vulkans, durch den Dschungel. Manchmal folgen sie einfach dem Wind, manchmal planen sie den nächsten Abschnitt ihrer Reise. Auf ihrer Odyssee über die Grenze nach Costa Rica begegnen sie vielen unterschiedlichen Menschen, einem Strassenjungen, mit dem sie sich für kurze Zeit, die sie in der Stadt zubringen, anfreunden; einem älteren Mann, der ein Puppentheater betreibt; Immigranten ohne Pässe, die in Costa Rica ebenfalls eine Arbeit suchen. Dann, beim illegalen Grenzübergang im Dschungel, verlieren sich die beiden Kinder und wir erleben, wie Saslaya erneut in eine sexuelle Abhängigkeit und Ausbeutung gerät – ihr hoffnungsloser Blick in die Kamera am Ende des Films ist eine eindringliche Anfrage an den Zuschauer.

Hilfswerke diskret im Hintergrund

Der Ursprung des Internationalen Film Festivals Fribourg liegt in einer Initiative zu Beginn der 80er-Jahre, als anlässlich des 25jährigen Bestehens von Helvetas die Westschweizer Sekretariate der wichtigsten Hilfswerke der Schweiz aufgrund der fehlenden Präsenz von Filmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika in den Schweizer Kinos mit sieben Filmen aus diesen Ländern eine Tournée in den Pfarreisälen einiger Westschweizer Städte organisierten. Der Erfolg animierte die Veranstalter, ein „Dritt-Welt-Filmfestival“ zu organisieren. 1986 liess sich das Festival in Freiburg nieder, wo die Vorführungen das grösste Echo gefunden hatten. Es wechselte in die Kinosäle und führte einen offiziellen Wettbewerb um den Verleihförderpreis ein. Erster Preisträger war der Film Wend Kûuni von Gaston Kaboré (Burkina Faso), und der Film wurde während vieler Jahre vom damaligen katholischen 16mm-Filmverleih Selecta-Film verliehen (ab 1991 durch den ökumenischen Filmverleih Selecta/ZOOM). Das Festival wiederholte sich zunächst nur alle zwei Jahre, konnte dann aber ab 1993 jährlich stattfinden und entwickelte sich immer stärker zu einem Festival von internationaler Bedeutung, wobei für den Erfolg die diskrete Zusammenarbeit und Vernetzung mit dem mittlerweile gegründeten trigon-Filmverleih nicht ohne Bedeutung war.

Seit den Gründungsjahren hat sich das Festival weiterentwickelt und die finanzielle Trägerschaft notwendigerweise auf eine weit breitere Basis gestellt. Das Festival ist mittlerweile für Stadt und Kanton Freiburg zum wichtigsten jährlich wiederkehren kulturellen Anlass geworden. Die Hilfswerke („Helvetas“, die „Erklärung von Bern“, „Fastenopfer“ und „Brot für alle“ mit ihren Westschweizer Sekretariaten) bleiben Gründungsmitglieder des FIFF, und zusammen mit „missio“ und E-Changer (früher „Frères sans frontière“) wünschen sie in einem gemeinsamen Inserat im diesjährigen Katalog dem Festival viel Erfolg und freuen sich, mit dem Festival die Bilder „venues d’ailleurs“ zu teilen. Im übrigen aber halten sie sich diskret im Hintergrund. Keine Unterlagen der Hilfswerke in den Pressefächern, keine Informationsblätter über ihr Engagement in den Kinos; ein Dia im Werbeblock ist nur sporadisch zu sehen, von einem Stand im Begegnungszentrum „Ancienne Gare“ ganz zu schweigen. Da wäre auch kaum Platz dafür. Wahrscheinlich verfügen die Vertreter der Hilfswerke auch kaum über die personellen Möglichkeiten, sich in dieser oder jener Form zu engagieren. Und vielleicht ist ihr Engagement auch ausreichend und wirkungsvoll genug: Seit 2001 finanziert E-Changer den mit SFr 5'000 dotierten Preis, der von einer aus sieben Jugendlichen zwischen 16 bis 20 bestehenden Jury vergeben wird. Die Westschweizer Sekretariate der kirchlichen Hilfswerke „Brot für Alle“ und „Fastenopfer“ dotieren bereits seit 1998 den Preis der Ökumenischen Jury mit SFr  5'000. Am Beispiel der diesjährigen Preisträgerin  ist leicht zu ermessen, dass diese Dotierung des Preises eine unschätzbare Anerkennung und grosse Ermutigung für das unabhängige Filmschaffen in sogenannten Entwicklungsländern darstellt. Das Internationale Film Festival Freiburg ist trotz aller notwendiger Erneuerungen darauf angewiesen, sich seiner Wurzeln zu erinnern.