Ein Idiot?

Der russische Film "Durak" von Jurij Bykov

Der Film  „DURAK“ (The Fool) des russischen Regisseurs Jurij Bykov zeigt eindringlich auf, was ein korruptes System den Menschen antut - und was einer dagegen tut. Er hat das Publikum am 67. Filmfestival von Locarno begeistert und wurde mit dem Preis der ökumenischen Jury ausgezeichnet. Beat Dietschy, Zentralsekretär der schweizer Hilfsorganisation "Brot für alle", schreibt über den Film.

Link: Brot für alle

Im russischen Kartenspiel „Durak“ muss man so schnell es geht alle Karten loswerden. Verlierer ist, wer zuletzt noch Karten hat. Dieser Spieler ist „Durak“ (der Narr). In Bykovs Film geht es um Korruption in einer russischen Kleinstadt. Der Held des Dramas ist  der Verlierer, er ist ein Anti-Held und heisst Dima Nikitin (meisterhaft gespielt von Artem Bystrov). Tagsüber ist er als Spengler tätig, abends sitzt er am Computer und lernt. Er will Ingenieur werden.

„DURAK“ ist ein düsterer Film, und das Drama, von dem er handelt, spielt sich in einer einzigen Winternacht ab. Es ist schon spät, da wird Dima wegen eines Wasserrohrbruchs in einen Wohnblock gerufen, in dem Randständige  untergebracht sind. Er geht hin, obwohl es nicht sein Sektor ist. Sogleich stellt fest, dass das neunstöckige Gebäude in einem desolaten Zustand ist und Wartungsarbeiten offensichtlich seit Jahrzehnten unterblieben sind. Ein grosser Riss durchzieht die ganze Hausfassade. Kein Zweifel, es besteht akute Einsturzgefahr, die Bewohner müssten unverzüglich evakuiert werden.  Da auf den zuständigen Vorgesetzten kein Verlass ist, entschliesst sich Dima, die  Chefs der Stadtverwaltung  zu alarmieren. Er findet sie an einer Geburtstagsfeier der Bürgermeisterin Anna Galaganova (Natalya Surkova) . Widerwillig lässt sich diese vom Ernst der Lage überzeugen und zieht sich  schliesslich mitsamt den schon reichlich betrunkenen Amtsvorstehern vom Gelage zurück.

Die nächtliche Krisensitzung offenbart den Zustand der Stadt und ihrer obersten Behörde.  „Alle haben wir uns bereichert“, stellt einer der Beamten lakonisch fest. Wenn der Skandal auffliege, würde er alle in den Abgrund reissen, nicht nur den zuständigen Bauchef, der das Geld für Inspektion und Unterhalt der Sozialbauten in die eigene Tasche verschwinden liess.  Anna Galaganova sucht einen Kompromiss zwischen Vertuschung  und Rettung der Betroffenen, stehen doch über 800 Menschenleben auf dem Spiel. Das sei der Abschaum der Stadt, wird ihr entgegnet. Ja, der Einsturz des Gebäudes  wäre geradezu die Lösung: er würde sie endlich von diesem Hort von Kriminellen und Alkoholikern befreien.  Ein Unternehmer, der eigentliche Strippenzieher in dem korrupten Machtgefüge der Stadt,  gibt der  Bürgermeisterin, die immer noch zaudert,  schliesslich zu verstehen: „Du hast die Wahl, dich für sie zu entscheiden oder für uns“.

Ganz ähnliches bekommt Dima Nikitin in seiner  eigenen Familie zu hören.  Ein Idiot sei er, dass er sich für fremde Leute einsetze, sagt ihm die Mutter. Doch Dima lässt sich nicht umstimmen. Als er gewahr wird, dass die Stadtbehörde sich entschlossen hat, nichts zu unternehmen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, beginnt er in einem verzweifelten Wettlauf mit der Zeit, selber die Bewohner des Blocks zu evakuieren. Stock für Stock jagt er die Unwilligen auf die Strasse. Doch am Ende wendet sich das Blatt noch einmal: es sei alles nicht wahr, er wolle nur auf ihre Kosten Karriere machen,  ruft  einer der Raufbolde aus dem Wohnblock und beginnt auf Dima einzudreschen.

Jurij Bykov ist mit seinem dritten Langspielfilm ein beklemmendes Portrait einer in Gier und Günstlingswirtschaft verstrickten Elite gelungen, das nicht nur an postsowjetische Oligarchen denken lässt. „DURAK“  ist mehr als eine Satire auf  die Schamlosigkeit einer Oberschicht, die sich nach Strich und Faden bereichert. Der Film ist eine Parabel auf den Zustand einer Welt, in der niemand bereit ist, Verantwortung zu übernehmen - nicht  für die angerichteten Schäden und die Opfer eines korrupten Systems, und schon gar nicht für den  Zusammenbruch oder die Suche nach Auswegen.  Niemand – ausser eben dem einen, Dima, der zu handeln beginnt, wenn die Regierenden sehenden Auges der Katastrophe ihren Lauf lassen, damit ihre korrupten Machenschaften nicht offenbar werden. Er findet sich auch nicht damit ab, wenn die Betroffenen nicht wahr haben wollen, was ihnen droht.

Doch dieser Dima  ist für fast alle – ausser seinen Vater - ein Narr. Er erinnert an Dostojewskis „Idiot“. Dima ist allerdings kein Fürst Myschkin.  Der Held und Hoffnungsträger in Jurij Bykovs Korruptionsthriller ist keine Ausnahmefigur, sondern einfach ein kleiner Handwerker, der die Menschlichkeit über den Profit stellt. Held ist er nicht, weil er siegt, sondern, weil er das Menschenmögliche tut, um andere vor dem Untergang zu bewahren. Das macht ihn in dem System, das den Zynismus und die Korruption zur Normalität gemacht hat, zum Ver-rückten.

Bykov macht mit den Hauptfiguren Dima Nikitin und Anna Galaganova einen Konflikt der Sichtweisen zum Kernthema des Films. Für die Bürgermeisterin und ihre Entourage ist es überlebenswichtig, weiterzufahren wie gehabt.  Es ist aus ihrer Sicht vernünftig  dem komplexen Macht-System zu gehorchen, in dessen Geiselhaft sie sich befinden und dessen Nutzniesser sie sind. Es erlaubt, dass jede und  jeder sich selber der nächste sein kann. Verrückt ist, wer ausschert und auf Menschlichkeit setzt. Wer diese letzte Karte im Spiel behalten will, verliert. Aus der Sicht des Narren – des „Durak“ – aber ist es verrückt, sich diesem System und einer Realität zu fügen, welche Menschen opfert. Man fühlt sich an das Pauluswort erinnert: „Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Verrücktheit erwiesen?“

In dieser Hinsicht steht „Durak“  in einer Tradition der russischen Kultur, die mit der Figur des göttlichen Narren den Widerspruch zur herrschenden Wirklichkeit hochhält. Und auch wenn das Ende des Dramas offen bleibt: die Figur des Retters, der, unverstanden  von der Familie und von den Herrschenden verfolgt, schliesslich auch von denen abgelehnt wird, denen er helfen will, hat unzweifelhafte Christus-Züge.

Biblische Bezüge habe er nicht gesucht, sagte der Regisseur auf meine diesbezügliche Frage. Ihm sei es darum gegangen, eine perverse Realität zu schildern und zu fragen, wie es darin trotz allem möglich sei Menschlichkeit zu bewahren. Er ist in Verhältnissen aufgewachsen, wie er sie schildert. Genau das macht „DURAK“ erschreckend überzeugend.

Beat Dietschy