Ein Gang durch das Innere der Welt

Bericht zur Arbeit der Ökumenischen Jury in Cannes 2024. Von Jurymitglied Johanna Haberer
Diamond brut (Agathe Riedinger)

Diamond brut (Agathe Riedinger; © Silex Films)


Das Filmfest in Cannes mit den glitzernden Stars der Leinwand, den visionären Regisseuren und Regisseurinnen, dem roten Teppich, den spektakulären Garderoben und mit der jährlich wechselnden Jury aus prominenten Filmschaffenden ist weltberühmt. Gestern sind die 77. Filmfestspiele in Cannes mit der Verleihung der Preise zu Ende gegangen.

Die Liste der Preisträgerinnen wurde über den gesamten Globus hinweg in allen Nachrichten bekanntgegeben.

Weniger bekannt ist, dass an allen Orten der großen Filmfestivals eine ökumenisch und international besetzte Jury aus allen Kontinenten und christlichen Konfessionen zusammenkommt, um die Visionen der Filmschaffenden aus einer Perspektive der Menschenwürde, der Bilder vom Menschen, der Gemeinschaft und Solidarität zu betrachten und die Frage zu stellen, welche Herausforderungen für die Gegenwart die Filme artikulieren und welche Zeichen von Hoffnung sie setzen.

Ein Filmfestival ist wie ein Gang durch das Innere der Welt. Im Jahr 2024 und im fünfzigsten Jahr der Ökumenischen Jury in Cannes waren es besonders die Filme, die von jungen Menschen erzählen, die die Ökumenische Jury fesselten: von der Kraft, die Heranwachsende heute brauchen, um in ihrem oft prekären, ignoranten oder autoritären Umfeld einen Halt und eine Perspektive zu finden.


Zu nennen sind da aus dem Wettbewerb die Geschichte des 19jährigen Mädchens Liane (sensationell gespielt von Malou Khebizi) in „Diamond brut“ (Frankreich 2024), die, bewahrt von ihrem naiven Glauben an ihre Schutzheiligen und überzeugt von ihrer strahlenden Zukunft, sich aufmacht, eine Influencerin auf Instagram zu werden. Alles, was Eltern von jungen Frauen zum Wahnsinn treibt - knappste Klamotten, aufgeklebte Wimpern und Fingernägel, aufgeblasene Lippen und halsbrecherische High Heels - setzt sie unbeirrbar ein, um ihr Ziel zu erreichen: nämlich gesehen zu werden von der Welt. Und das gelingt ihr, ohne sich dabei korrumpieren, verführen oder verkaufen zu lassen in dem eindrucksvollen Film der jungen französischen Regisseurin Agathe Riedinger.


Auch die 12jährige Bailey (grandios glaubhaft gespielt von Nykiya Adams) in dem Film „Bird“ der englischen Regisseurin Andrea Arnold kämpft mit dem Erwachsenwerden in einer Welt, in der jeder und jede sich nur für sich selbst interessiert. Ihr immer noch jugendlicher Vater, der zwei seiner Kinder in einem besetzten Haus in einer englischen Vorstadt aufzieht, will seine Freundin heiraten. Ihr großer Bruder gehört einer Bande an und schwängert seine 14jährige Freundin. Ihre Mutter lebt mit ihren anderen drei kleinen Geschwistern zusammen, die Bayley vor deren neuem Lebensgefährten, einem gewalttätigen Schläger, immer wieder beschützen muss. Sie droht unter dem Übermaß an Gleichgültigkeit und Verantwortung zu zerbrechen, bis ihr ein merkwürdiger Mann (glänzend gespielt von Franz Rogowski) begegnet, der sie - wie eine besondere Art Schutzengel - wahrnimmt und in ihrer Schönheit und Kraft erkennt.

Bayley verwandelt sich in dieser magischen Woche, die der Film sie begleitet und in der ihr die Welt neu begegnet, von einer missmutigen und verunsicherten Pubertierenden in eine selbstbewusste junge Frau, die am Ende mit den verstreuten Teilen ihrer prekären Familie ein fröhliches Hochzeitsfest feiert.


Vom Gesehenwerden eines jungen Menschen handelt auch der rumänische Film „Trei kilometri până la capătul lumii“ (deutsch etwa: „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“) von Emanuel Parvu. Der 17jährige Adi ist in einem abgelegenen Dorf im Donaudelta aufgewachsen und in den Ferien gerade zuhause bei seinen durchaus liebevollen Eltern, die sich finanziell krummlegen, um ihm ein Studium in der Stadt zu finanzieren. Nach einem Diskobesuch wird er von zwei Dorfjugendlichen in einer kurzen, intimen Szene mit einem anderen Jungen, einem Touristen, beobachtet und daraufhin übel zusammengeschlagen.

Das dörfliche Umfeld, die Eltern, der Dorfpolizist, der orthodoxe Priester, sie alle müssen im Laufe des Filmes begreifen, dass Adi ein schwuler Junge ist, der weder durch gutes Zureden noch durch Strafen oder gar Exorzismen „normal“ werden kann. Sie weigern sich aber, diesen Jungen neu zu sehen, ihn zu verstehen und seine Würde zu verteidigen. Erst das notfallmäßig von der besten Freundin Adis gerufene Sozialamt macht Adis Alptraum ein Ende.

Der unwillentlich geoutete Adi wird von allen ihn umgebenden Erwachsenen verkannt, verraten und verkauft. Als er wieder zum Studium abreist, sind die vertrauten Beziehungen zu den Eltern und den dörflichen Institutionen zerbrochen. Er kehrt seiner Familie und dem Dorf den Rücken.

Auch dieser Film entführt in eine andere Welt, an die Grenzen Osteuropas, wo sich ein konservatives Familienbild und eine unaufgeklärte Religion gegenseitig verstärken und einen neuen Blick sogar auf den liebsten Menschen unmöglich machen.

Keiner dieser Filme, die von jungen Menschen handeln, die auf der Suche nach Orientierung und Liebe sind, sind von der offiziellen Festivaljury mit einem Preis versehen worden. Sie konnten offenbar nicht mithalten mit den publikumswirksamen und schrillen Stories des internationalen Wettbewerbs, zum Beispiel von einer Sexarbeiterin, die sich in einen russischen Oligarchensohn verliebt („Anora“ ausgezeichnet mit der Goldenen Palme) oder der schmissigen Geschichte von einem mexikanischen Drogenboss, der eine Frau wird, damit aus seiner kriminellen Vergangenheit erlöst wird und dann an einer Versöhnung mit seinen Opfern arbeitet („Emilia Perez“ von Jacques Audiard, ausgezeichnet mit einem gemeinsamen Preis für die weiblichen Schauspielerinnen).

Auch die Ökumenische Jury hat dann schließlich einen anderen Film ausgezeichnet.

„The Seed of the Sacred Fig“ (deutsch: Der Samen der heiligen Feige) ist der Film des iranischen Regisseurs und Autors Mohammad Rasoulof.


Vor etwa zwei Wochen wurde er im Iran zu acht Jahren Haft mit fünfzig Peitschenhieben verurteilt und ist daraufhin zu Fuß übers Gebirge geflohen. Den Film, der im Geheimen gedreht wurde, hat er einem Freund mitgegeben. Die Endbearbeitung fand schließlich in Hamburg statt. Rasoulof konnte an der Premiere am letzten Tag des Festivals persönlich teilnehmen. Die Fotos seiner beiden Hauptdarsteller hielt er in die Kameras, sie wurden an der Ausreise gehindert.

Auch dieser Film nimmt die Perspektive junger Menschen ein. Der Film erzählt die Geschichte eines Ermittlungsrichters im gegenwärtigen Iran, der nach einem Karrieresprung jeden Tag Todesurteile gegen die für die Freiheit demonstrierenden jungen Menschen verhängt. Zuhause beobachten seine Töchter im Netz die Liveberichterstattung über die Demonstrationen und müssen miterleben, wie die beste Freundin der Älteren von Soldaten mit Schrotmunition ins Gesicht geschossen wird. Die Realitäten des Vaters und seiner Töchter beginnen auseinanderzufallen, und – nachdem seine Pistole verschwindet – beginnt der Vater gegen die Frauen in der eigenen Familie zu ermitteln.

Hart ausgedrückt, war dies der wichtigste Film auf einem Festival, auf dem es sich schwerpunktmäßig um die Abschiedsvorstellungen alter weißer Regisseure handelte (Frank Coppola mit „Megalopolis“, Paul Schrader mit „O Canada“ und David Cronenberg mit „The Shrouds“). Oder es ging um das Thema der weiblichen Attraktion und des Schönheitsterrors (z.B. „Parthenope“ von Paolo Sorrentino oder „Substance“ von Coralie Fargeat).


Die Jury gab ihren Preis an den Film, der die Metapher vom Samen der Feige als das Bild einer Revolution junger Frauen und Männer in den Raum stellt, die schließlich die patriarchalische und konservative religiöse Garde ablösen wird.

Die Begründung der Jury lautete:

Wenn Religion mit politischer Macht und dem Patriarchat verknüpft ist, kann sie die intimsten Beziehungen und die Würde des Einzelnen zerstören, wie dieses iranische Familiendrama zeigt. Die Jury war beeindruckt von der reichen Symbolik des Films, seinem mutigen und hoffnungsvollen Ende, seinen humorvollen Momenten und seiner herzzerreißenden Spannung. Die Subtilität und Nüchternheit seiner dramaturgischen und filmischen Gestaltung lassen ihn zu einer Metapher für jede autoritäre Theokratie werden.

Den Preis für sein Lebenswerk erhielt Wim Wenders, der in seiner Dankesrede betonte, dass gerade der Preis der Ökumenischen Jury für die Filmschaffenden eine besondere Ehre sei, denn dieser Preis würde jenseits aller kommerzieller Interessen der Filmindustrie den Geist der Zeit erspüren.