Cannes 2023/6

Anatomie d'une chute (Internationaler Wettbewerb)

Anatomie d’une chute von Justine Triet ist ein atemberaubender Thriller. Hat Sandra ihren Mann umgebracht? Hat er sich selbst umgebracht? War es ein Unfall? Das Gericht soll die Wahrheit an den Tag bringen. Wie tut man das, wenn es nur wenige schwache Hinweise gibt, die verschieden interpretiert werden können. So wird aus diesem besonderen Fall schnell eine Reflexion darüber, was Wahrheit überhaupt ist. Zwischen Realität und Fiktion, zwischen Gewissheit, Zweifel und gegensätzlichen Hypothesen, die immer auch unsere Voreingenommenheiten widerspiegeln, ist es die Gegenüberstellung der verschiedenen Standpunkte, die die Wahrheitsfindung vorantreibt, das, was gesagt wird und das, was man versucht, zu verschweigen. Alle Möglichkeiten und ihre jeweiligen Wahrscheinlichkeitsgrade werden gemessen am Maßstab der Überzeugung derjenigen, deren Aufgabe es ist, ein Urteil zu fällen. Ein zentraler Satz wird von der Frau ausgesprochen, die für den Schutz des Sohnes der Angeklagten verantwortlich ist: „Wenn es zwei Möglichkeiten gibt, aber keine, zu beweisen, welche die richtige ist, muss man eine Entscheidung treffen.“ „Muss ich so tun, als wäre ich sicher?“ fragt das Kind. „Nein, du entscheidest. Das ist etwas ganz anderes.“

Es geht also einerseits um ein Zusammen aller Beteiligten, aber auch um die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen, die seine Überzeugung verankert. Diese ist es, die frei macht. Ein tolles Statement, ein toller Film.

Firebrand (Imternationaler Wettbewerb)

Firebrand von Karim Aïnouz erzählt die Geschichte des Endes von Heinrich dem VIII. in England und seiner sechsten Frau, Catherine Parr, aus der Sicht seiner Tochter Elisabeth, die, nach ihrem Halbbruder Edward und ihrer Halbschwester Marie als Elisabeth I. den Thron besteigt. Eine feministische Sicht also, wie es im Vorspann angegeben wird: „Geschichte ist immer die der Kriege und der Männer, es ist Zeit, den anderen Teil zu sehen“. Anne Askew erscheint im Film als mitreißende Predigerin der Reformation. Catherine besucht sie heimlich in ihrem Waldversteck, rät ihr vor dem König zu fliehen, was Anne strikt ablehnt. Sie wird verbrannt. Und Catherine muss für ihr Leben fürchten, da sie selbst der neuen Lehre anhängt und versucht, den König dafür zu gewinnen. Dieser aber (toller Jude Law, kaum zu erkennen als dicker alter König) leidet unter phänomenalen Stimmungsschwankungen: manchmal voller Liebe zu seiner Frau, dann wieder von einer jüngeren angezogen, was der alte Bischof auszunutzen versteht: der einzige Weg, seine Frau loszuwerden, ist, sie als Ketzerin zu verurteilen. Dafür braucht er Beweise…

Die Geschichte ist eingebettet in das feuchtkalte Grau des Nebels über bewaldeten Hügeln, in deren Schoß das Schloss Raum bietet für ein Helldunkel, das die Zwielichtigkeit der Intrigen wunderbar darstellt. Ohne den überraschenden Schluss zu verraten: die Freiheit kommt von den Frauen und in der letzten Einstellung tanzen die Mücken im Sonnenschein.

Kuolleen lehdet (Fallen Leaves - Internationaler Wettbewerb)

Kaurismaki brachte alle zum Lachen während der traditionellen Ersteigung der berühmten roten Stufen, und als er dann im Kinosaal ankam, begrüßte ihn die Menge der Zuschauer mit jubelndem Applaus. Seinem Stil treu, als eine Art „Anti-Woody-Allen“, bringt er in Fallen Leaves (Kuolleet Lehdet) „kleine Leute“ auf die Leinwand, mit traurigen Minen in traurigen Situationen, die selten einmal knappe Sätze von sich geben, aber deren Kürze so komisch ist, dass der ganze Saal ständig lacht. Es ist eine Art Märchen, wie er sie gerne bringt, mit einem diskreten Happy End. Nur die ständigen Radiomeldungen über den Krieg in der Ukraine erinnern uns an eine andere Wirklichkeit, von der man aber nicht erkennen kann, wie sie mit der hier erzählten Geschichte zusammenhängt. Oder eben vielleicht gerade nicht?

Club Zero (Internationaler Wettbewerb)

Jessica Hausner lenkt in Club Zero den klinischen Blick ihrer Kamera auf ein gar nicht so seltenes Phänomen. Eine neue Lehrerin wird von einer Privatschule engagiert. Sie unterrichtet Ernährungslehre. Sie erklärt ihren Schülern, wie schlecht die Konsumgesellschaft für die Gesundheit ist. Dann bringt sie ihnen „bewusstes Essen“ bei: ganz wenig, ganz langsam, und nur nach langem Ein- und Ausatmen. Als die Schüler sich daran gewöhnt haben, geht sie einen Schritt weiter und weiht sie in das Geheimnis des Null-Clubs ein: man kann einfach aufhören, zu essen: dadurch werden die körperlichen und physischen Kräfte gesteigert. Die Idee, dass wir essen müssen, um zu leben, ist eine falsche Idee der „anderen“.

Dies alles ist dargestellt in klaren Linien, in Farben, die zu keiner Emotion verleiten, keinerlei Unordnung stört die aseptische Harmonie der Bilder.

Man könnte meinen, der Unterricht dieser Lehrerin könnte im echten Leben nicht vorkommen. In etlichen Sekten jedoch werden solche Praktiken geübt, unter Umständen bis zum Tod der Anhänger. Jugendliche sind besonders empfänglich für eine extreme Infragestellung der Welt der Erwachsenen. Und gegenüber einer so falschgeleiteten Energie der jungen Leute sind die Erwachsenen einfach hilflos. Das Bedürfnis nach „Reinheit“, nach einer „höheren“ Existenzform, ist einfach stärker als jede Vernunft. Das macht es so gefährlich.