Belgisches Filmwunder

Bericht vom Filmfestival in Cannes (7)
Le otto montagne (Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch)

Le otto montagne


Es mag überraschen, dass ausgerechnet ein flämischer Regisseur aus Gent eine italienische Geschichte verfilmt. Aber Felix van Groeningen war von Paolo Cognottis Roman „Le otto montagne“ (Die acht Berge) so begeistert, dass er sich entschloss, Italienisch zu lernen, um das Buch zu verfilmen. Das Drehbuch schrieb er gemeinsam mit seiner Partnerin Charlotte Vandermeersch, die auch Co-Regie geführt hat.

Es ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei unterschiedlichen Jungen, der eine kommt aus der Stadt, der andere vom Land. Pietro fährt mit seinen Eltern in den Ferien in das Aosta-Tal und lernt hier den gleichaltrigen Bruno kennen, den letzten Jungen des Dorfes. Die beiden verbringen mehrere Sommer zusammen und werden enge Freunde.

Nach dem Tod von Pietros Vater begegnen sie sich wieder und bauen gemeinsam ein verfallenes Haus in den Bergen wieder auf. Hier begegnen sie sich immer wieder. Pietro fängt an Bücher zu schreiben, Bruno übernimmt den Bauernhof seines Onkels und baut eine traditionelle Käserei auf.

Der Film schwelgt nicht in einer Bergidylle, sondern behält bei aller Schönheit des Naturpanoramas einen melancholischen Grundton. Es geht um existentielle Fragen, wie ein selbst bestimmtes Leben gelingen oder woran es scheitern kann. Mit Luca Marinelli und Alessandro Borghi exzellent besetzt, leidet der Film allein an seiner Überlänge von 2 ½ Stunden. Wer sich darauf einlässt, den erwartet ein großes Kinoerlebnis.

Auch der Regisseur und Drehbuchautor Lukas Dhont kommt aus Gent. Vor vier Jahren wurde er in Cannes als cineastisches ‚Wunderkind‘ gefeiert, als er mit seinem Kinodebüt „Girl“ sowohl die Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm wie auch den Preis in der Reihe Un Certain Regard gewann. Jetzt ist 31jährige mit seinem neuen Film „Close“ (Nah) in den Wettbewerb aufgestiegen.

„Es fiel mir nicht leicht, einen Stoff für meinen zweiten Film zu finden“, sagte Lukas Dhont in der Pressekonferenz. Schließlich fuhr er in das Dorf, in dem seine Mutter noch lebt, und besuchte seine alte Schule. „Da habe ich mich an das Kind erinnert, das ich damals war, und für dieses Kind habe ich den Film gemacht.“


Die Ausgangssituation ist ähnlich wie bei Felix van Groeningen. Im Mittelpunkt stehen zwei 13jährige Jungen kurz vor dem Beginn der Pubertät. Leo und Rémi sind als Freunde unzertrennlich, sie treffen sich auf dem Weg zur Schule und verbringen den Rest des Tages miteinander, manchmal übernachtet Léo bei Rémi. Vielleicht schwingt eine homoerotische Anziehung mit, aber sie wird für die beiden nie zum Thema.

Die innige Freundschaft der Jungen wird eines Tages auf die Probe gestellt, als Mitschüler anfangen, sich über die beiden lustig zu machen und fragen, ob sie „ein Paar“ seien. Verunsichert geht Léo auf Distanz zu seinem Freund, sucht die Nähe anderer Jungen und geht zum Eishockeytraining, um seine Männlichkeit zu demonstrieren. Man spürt die Angst, von seinen Mitschülern nicht ernst genommen zu werden.


Die große Kunst des Films liegt darin, starke Emotionen zu wecken, ohne dafür viel Dialog zu benötigen. Das gelingt den jugendlichen Darstellern Gustav de Waele (Rémi) und Eden Dambrine (Léo) auf perfekte Weise. „Ich wollte ihnen nicht zu viel Dialog vorschreiben, sondern sie ganz natürlich sprechen lassen. Das Drehbuch, das ich ihnen gebe, ist eher eine Choreographie als ein Drehbuch.“, sagt Lukas Dhont.

Es ist die Art, wie die Kamera nahe an den Gesichtern der Jungen bleibt, die uns viel über ihre Gefühle erzählt. Der Titel „Close“ verweist auf das Leitmotiv, die Nähe der Freundschaft. Obwohl der Film seine Protagonisten nie aus den Augen verliert, lässt er den Zuschauern Raum, sich auf die jugendliche Gefühlswelt einzulassen. Auch die Rollen der Mütter sind mit Émilie Dequenne und Léa Drucker glänzend besetzt.


Drei Filme aus Belgien sind in diesem Jahr in den Wettbewerb von Cannes eingeladen, man spricht schon von einem belgischen Filmwunder. Was die drei Filme „Tori et Lokita“, „Le otto montagne“ und „Close“ verbindet, ist das Motiv der Freundschaft. Sie erzählen von der Kraft und Verbundenheit, die daraus erwächst, aber auch von den Gefährdungen, denen die Freundschaften ausgesetzt sind.