58. Filmfestival Locarno

Preis der Ökumenischen Jury für den kanadischen Film "La Neuvaine". Bericht von Charles Martig

© Festival del Film Locarno, Massimo Pedrazzini


Der Film „La Neuvaine“ des kanadischen Regisseurs Bernard Émond ist der Preisträger der Ökumenischen Jury am Filmfestival Locarno. Der Preis ist mit 20'000 Franken dotiert und an die Distribution des Films in der Schweiz gebunden. Anlässlich des 50. Geburtstages von INTERFILM wurde Wim Wenders mit dem Spezialpreis der Ökumenischen Jury für sein Lebenswerk geehrt.

Die Jury hat „La Neuvaine“ wegen der überzeugenden Darstellung von religiösen Fragestellungen ausgezeichnet: „Während viele religiöse Filme an ihren Bekehrungsbemühungen oder an einer befremdlichen Frömmigkeit scheitern, gelingt es ‚La Neuvaine’, Glaubensgewissheit zu respektieren und gleichzeitig die Schwierigkeiten anzuerkennen, in einer säkularen Welt und im Schatten gewaltsamer Tragödien an Gott zu glauben.“ Die Geschichte handelt von der Ärztin Jeanne, die durch ein Ereignis sinnloser Gewalt stark traumatisiert ist. Sie flüchtet von zu hause weg in eine Flusslandschaft, in der Nähe der Wallfahrtskirche von Sante-Anne-de-Beaupré. Dort trifft sie François, einen ruhigen jungen Mann, der zum neuntägigen Novenengebet gekommen ist, weil seine Grossmutter im Sterben liegt. Beide sind in ihrer Trauer allein. Durch die Begegnung entsteht etwas Neues, eine gegenseitige Empathie, die tief in persönliche Fragen des Glaubens eindringt. Jeanne kann sich dem naiven Glauben von François nicht vorbehaltlos öffnen, denn die Verletzungen sind zu gross. Doch erhält sie in der Begegnung mit François und seiner Grossmutter auf dem Sterbebett die Kraft, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Bernard Émond baut seine Geschichte sorgfältig auf,  entwickelt die Charaktere und gibt Ihnen Raum in der Flusslandschaft von Québec. Das Gespräch zwischen den sehr unterschiedlichen religiösen Positionen der beiden Hauptfiguren gestaltet der Regisseur ausgesprochen glaubwürdig. Seine behutsame Inszenierung schafft Stimmungen, die miterleben lassen, was im Moment des Todes geschehen kann, wenn sich Menschen in ihrer religiösen und existentiellen Gestimmtheit begegnen.

La Neuvaine


Anspruchsvolle Filme in die Schweizer Kinos bringen

Der Preis ist zum zweiten Mal mit 20'000 Franken dotiert und an die Filmdistribution in der Schweiz gebunden. Das Preisgeld wird von den evangelisch-reformierten Kirchen und der römisch-katholischen Kirche der Schweiz zur Verfügung gestellt. Angesichts der Tatsache, dass viele Filme den Weg vom Filmfestival auf die Kinoleinwand oder in Fernsehen nicht finden, unterstützt der Preis vor allem Filme, die durch ihr soziales oder politisches Engagement wenig Chancen zur Auswertung haben. Gerade ein Film wie „La Neuvaine“, der wenig Chancen auf eine kommerzielle Auswertung im Kino hat, braucht die Verleihförderung, um auch ausserhalb des Filmfestivals Locarno sein Publikum zu finden.

Zudem hat die Ökumenische Jury den deutschen Film „Fratricide“ mit einer besonderen Erwähnung ausgezeichnet. Aus der Begründung der Jury: „FRATRICIDE fordert zur Auseinandersetzung mit dem drängenden europäischen Flüchtlingsproblem heraus. Der Film spielt unter Kurden in Deutschland. Yilmaz Arslan verbindet die komplexe Geschichte zweier Brüder sowohl mit Szenen physischer Gewalt als auch mit dem anrührenden Bild freundschaftlicher Fürsorge. Sein Film ist eine Anklage gegen Rassismus und Ignoranz, aber auch ein Plädoyer für umfassende Menschlichkeit und Würde." Der Beitrag aus Deutschland war sicherlich der mutigste und provokanteste Film im internationalen Wettbewerb, da er auf niemand Rücksicht nimmt und die Ereignisse mit teilweise schockierenden Bildern darstellt.


Wim Wenders anlässlich von 50 Jahre INTERFILM geehrt

Frühzeitig haben die kirchlichen Filmorganisationen INTERFILM und SIGNIS bei der Festivaldirektorin Irene Bignardi angeregt, den Regisseur und Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg an das Filmfestival einzuladen. Anlässlich des 50. Geburtstages der internationalen evangelischen Filmorganisation INTERFILM erhielt Wim Wenders in Locarno den Spezialpreis der Ökumenischen Jury für sein Lebenswerk. Sein neuer Film „Don’t Come Knocking“ wurde auf der Piazza Grande gezeigt. Wenn es so etwas wie die späte Verzweiflung des alternden Helden gibt, dann ist sie im neuen Film von Wim Wenders ironisch und vielschichtig umgesetzt. Sam Shephard schrieb das Drehbuch zum Film und spielt auch die Hauptrolle des Westernhelden Howard Spence, der mit seinem Pferd von den Dreharbeiten in Nevada flüchtet. Er kehrt als Sechzigjähriger – nach einem wilden Leben mit Sex, Drogen und Glücksspiel – in den Schoss seiner Mutter zurück. Diese offenbart ihm, dass er irgendwo in Montana ein Kind hat. Er macht sich auf, um die Spuren seines Lebens zu erforschen. Wim Wenders zeichnet die Hauptfigur als alten Haudegen mit weichem Kern. Der Übergang in ein neues Leben als Familienvater wird ihm nicht gelingen, denn die Verletzungen sind zu gross. Ein Gefühl der Trauer bleibt am Schluss zurück, und eine leise Hoffnung, dass dieser unmögliche Vater doch noch zu seinen Kindern finden möge.