Vier Preise für den Film "Three Sisters" von Wang Bing und Publikumsrekord

Bericht von Hans Hodel, Bern (INTERFILM)

Three Sisters (Frankreich/Hong-Kong 2012) des Chinesen Wang Bing, der einzige Dokumentarfilm im offiziellen Wettbewerb des 27. Internationalen Film Festivals Fribourg 2013,  gewann nicht nur den Preis der Ökumenischen Jury, den Don Quijote-Preis der FICC-Jury und den E-Changer Preis der Jugendjury, sondern vor allem auch den mit CHF 30‘000 dotierten Grossen Preis "Regard d’or" der zum Teil aus früheren Preisträgern prominent besetzten internationalen Jury. Mit über 36‘000 Zuschauern konnte das FIFF 2013 einen Publikumserfolg verzeichnen, der sogar das bestens besuchte Jubiläumsjahr 2011 bei weitem übertraf.

Zwölf Filme umfasste das Programm des offiziellen Wettbewerbs des 27. Internationalen Film Festivals Fribourg (ausschliesslich Schweizer, Europäische und in einigen Fällen auch Internationale Premieren), das in zahlreichen anregenden Nebensektionen über 100 weitere Filme aus 45 verschiedenen Ländern präsentierte, die beim Publikum offensichtlich auf grosses Interesse stiessen. Das gilt vor allem auch für das pädagogisch äusserst sorgfältig konzipierte und organisierte Programm "Planète Cinéma"  für SchülerInnen und StudentInnen,  deren Teilnahme fast einen Drittel des grossen Publikumserfolgs ausmacht.  

Erinnerungen an die Festivalanfänge

Dabei erinnert man sich gerne an die innovativen Anfänge  dieses Festivals zu Beginn der 80er Jahre, als in den Schweizer Kinos Filme aus Afrika, Asien und Lateinamerika kaum zu sehen waren und es Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Hilfswerken und Entwicklungsorganisationen wie Helvetas, Fastenopfer  und Brot für alle waren, die zusammen mit dem katholischen Filmbeauftragten in Fribourg mit fünf Filmen aus den erwähnten Kontinenten eine Tournée  in ausgewählten Städten der Westschweiz durchführten. Aufgrund der gemachten Erfahrungen entschied man sich 1986, die Filmvorführungen im Kontext eines kleinen Festivals auf Fribourg zu konzentrieren. Der Film Wend  Kûuni von Gaston Kaboré (Burkina Faso) war damals der erste Preisträger und konnte dank dieses Preises und dem (katholischen) Verleih Selecta-Film einem grösseren Publikum  in der Schweiz zugänglich gemacht werden. Ein wichtiger Impuls für die Entwicklung des Festivals kam bald danach auch von den Initianten des Kinoverleihs trigon-film, der auf drei Festival-Ausgaben beschränkt einen eigenen Preis vergab. Wer dem Festival noch lange danach im Zusammenhang mit seiner Fokussierung auf "Filme des Südens" einen "Drittweltladen-Groove" nachsagte, hatte offensichtlich nie Gelegenheit, die hohe filmästhetische Auswahl-Qualität  der Anfänge zu sehen. Dabei entspricht die kontinuierliche und erfolgreiche Weiterentwicklung des Festivals und seiner Programmierung der letzten Jahre einer inneren Logik, die zu den Anfängen nicht im  Gegensatz steht.

Kriterien der Ökumenischen Jury

Eine ökumenische Jury am FIFF gibt es erst seit 1998, jährlich neu zusammengesetzt aus vier zum Teil inländischen, zum Teil ausländischen Vertretern von SIGNIS, der Internationalen Katholischen Organisation für Kommunikation, INTERFILM, der Internationalen kirchlichen Filmorganisation sowie der beiden Entwickliungsorganisationen Brot für alle (evangelisch) und Fastenopfer (katholisch) oder ihr nahe stehenden Institutionen. Die beiden Organistionen stiften ein mit CHF 5000 dotiertes Preisgeld, der jenem Film aus dem Wettbewerb zugesprochen wird, der nicht nur die filmästhetischen Kriterien erfüllt, sondern inhaltlich nach Möglichkeit auch den Programmperspektiven und Aktivitäten von Brot für alle und Fastenopfer  gerecht wird.

Starke Laudatio für Three Sisters

Betrachtet man den innovativen Reichtum  des Wettbewerbsprogramms mit seinen vielseitigen, allerdings auch unterschiedlich berührenden Geschichten aus Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie einer auffällig hohen Zahl aus Asien (Philippinen, Vietnam, Japan, Südkorea und China), so erstaunt die überragende Würdigung von Three Sisters durch die Jurys durchaus. Immerhin handelt es sich um den einzigen und dazu noch überlangen, 153minütigen Dokumentarfilm, der im Wettbewerb präsentiert wurde. Wenn er aber selbst von der Jugendjury ausgezeichnet wird, bei der man erwartet hätte, dass ihr Favorit der saudiarabische Film Wadjda wäre, in dessen Mittelpunkt ein starkes 11jähriges Mädchen mit seiner Sehnsucht nach einem Fahrrad steht,  dann muss Three Sisters in der Tat eine besondere Qualität haben. (Immerhin hat Wadjda, dessen Vorführungen auf ein sehr grosses Interesse stiessen, den Publikumspreis erhalten.)

Wang Bing, der übrigens in Fribourg bereits 2008 für seinen Film He Fengming/Chronicle of  a Chinese Woman von der Ökumenischen Jury mit einer Lobenden Erwähnung ausgezeichnet worden ist, nimmt den Zuschauer mit ins chinesische Hochland der Provinz Yunnan und vermittelt ihm mit einfachen Mitteln eine berührende Begegnung mit Menschen, die in grosser Armut  leben. Neben der besonderen Qualität des Films verdient die besondere Qualität des Statements der internationalen Jury, wie es kaum je zu hören ist, zitiert und festgehalten zu werden:

"Das schwierigste erreichbare Ziel jeder Kunstform, insbesondere des Films, ist Einfachheit. Auch wenn der Gewinner des diesjährigen Grossen Preises einfach, vielleicht sogar naiv erscheinen mag, ist er alles andere als das. Dieser trügerisch durchdachte, kühne, herausfordernde und geniale Film zwingt jeden einzelnen von uns, viele Fragen zu stellen – menschliche Fragen, philosophische Fragen, politische Fragen, kreative, künstlerische und cineastische Fragen – und er hallt in uns nach, seit wir ihn gesehen haben.
Wir haben nicht nur einen grossartigen Film gesehen, vielmehr gab uns der Film das Gefühl, innerhalb der Realität, die er abbildet, gelebt zu haben. Dieser Film zeigt nicht einfach einen Ort und seine Leute, vielmehr wird der Film selbst zum Ort. Er überwindet den Film an sich und ermöglicht uns, in seine Relität hineinzusteigen. Nur ganz wenige Filme, wenn überhaupt welche, haben das je geschafft.
Das ultimative Ziel jeder Kunstform ist es, die Zuschauer wachzurufen. Das wunderbare an diesem Film ist die Art und Weise, wie er es vermeidet, seinem Publikum Gefühle und Botschaften vorzuschreiben. Vielmehr schafft er individuelle Betroffenheit bei jedem Einzelnen. Das ist das höchste Ziel von jedem Kunstwerk und gleichzeitig die grösste Auszeichnung. Mit grossem Respekt und Bewunderung vergeben wir den diesjährigen 'Regard d’or' der Jury."

Still aus "San zimei" ("Three Sisters")

Publikumswirksame Parallelsektionen

Letztes Jahr hat Thierry Jobin als neuer künstlerischer Direktor einige neu akzentuierte Parallelsektionen eingeführt, die sich bewährt haben und deshalb jetzt  eine publikumswirksame Fortsetzung fanden. Nicht weniger als 18 Filme waren unter dem Motto "Escape to Victory" dem als solches eigentlich gar nicht existierenden Genre des Sportfilms gewidmet. In diesem Zusammenhang gelang es dem Festival, die Fussballegende Eric Cantona nach Fribourg einzuladen, um drei von ihm mitproduzierte Filme zu präsentieren. In der Sektion "Diaspora" .wurden Filme präsentiert, die zum Thema Armenien vom kanadische Regisseur Atom Egoyan ausgewählt wurden, "Filme, die er selbst und die armenische Exil-Gemeinschaft gerne sehen, um sich an die eigenen Wurzeln und an ein vergngenes Lebensgefühl zu erinnern." Der berühmte Chansonnier Charles Aznavour, Schauspieler in Egoyans Film Ararat und Armeniens Botschafter in der Schweiz, beehrte das Festival mit seinem Besuch und nahm an einer Diskussionsrunde teil. Die Sektion "Terra inkognito", die dem unbekannten Filmland Usbekistan gewimdet war, wirkte im Vergleich zu diesen renommierten Gästen verständlicherweise nicht so attraktiv, war aber mit acht unterschiedlichen Filmen eine wahre Entdeckung.