Trennungen

Festivalbericht von Dietmar Adler, Mitglied der Ökumenischen Jury

1.
Der überragende Film des Berlinale-Wettbewerbs 2011 war Nader und Simin. Eine Trennung (Jodaeiye Nader az Simin)  des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi (Alles über Elly, 2009), da war sich die Ökumenische Jury schnell einig, Bären-Jury (zwei silberne und der goldene Bär) und Presse sahen das ähnlich.

Es geht um die Geschichte zweier Familien in Teheran. Der Film beginnt mit einem Termin beim Scheidungsrichter, Simin plant für die gemeinsame Tochter eine Übersiedelung ins Ausland, Nader will und kann nicht weg, sein demenzkranker Vater braucht ihn. Simin zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Es geht um die Folgen der Trennung für die Familie. Zur Betreuung des Vaters wird als Zugehfrau Razieh eingestellt. Da treffen zwei soziale Schichten aufeinander. Gehören Nader und Simin zu einer städtischen bürgerlichen Mittelschicht, kommt Razieh aus einer stärker an religiösen Autoritäten orientierten unteren Schicht. Damit spiegelt der Film gesellschaftliche Veränderungen und Widersprüche im Iran wieder, ein urbanes Bürgertum trifft auf Menschen, die stärker der religiösen und gesellschaftlichen Tradition verpflichtet sind.

Als sich Naders Vater einnässt, ist sich Razieh unsicher, ob sie den ihr fremden Mann säubern darf, ein Problem, das in der Großfamilie so noch nicht auftauchte. Eine Hotline für religiös-moralische Fragen gibt ihr Auskunft, ausnahms¬weise darf sie. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände erleidet Razieh eine Fehlgeburt, Nader wird dafür angeklagt. Es folgen gerichtliche Auseinandersetzungen, menschliche Verwerfungen. Wir sehen Menschen, die doch stets das Gute wollen, aber sich gerade darin in Widersprüche verfangen. Jeder hat nachvollziehbare Motive, ungewollt werden sie schuldig.

Still aus "Jodaeiye Nader az Simin" ("A Separation")


Hervorragende Schauspieler, eine Kamera nah an den Menschen, ohne voyeuristisch zu werden: Diesem Film, eindeutig lokalisiert in den gesellschaftlichen Veränderungen des heutigen Iran, gelingt zugleich, die Bedingungen menschlichen Lebens und Agierens  zu zeigen und die Zuschauenden in die Geschichte zu verwickeln. Ein Film nicht nur für den Iran.


2.
Viele der präsentierten Filme zeigen einen persönlichen, fast privaten Blick. Dass sich das Politische, das Gesellschaftliche in den Geschichten von Personen und Familien spiegelt und bricht, ist immer wieder greifbar. Dabei werden aber nicht Thesen bebildert, sondern Menschen in ihrer Vielschichtigkeit, ihren Beziehungen und auch in ihrer Widersprüchlichkeit gezeigt.


3.
Trennungen – beabsichtige, sich vollziehende, zurückliegende - und ihre Folgen, das war das Thema in vielen Filmen der diesjährigen Berlinale, mindestens fünf Filme aus dem Wettbewerb handelten davon. Zufall? Trend? Oder ist das Thema für die Auswahlkommission gerade "dran"?

In Rätselhafte Welt (Un Mundo Mistorioso) von Rodrigo Moreno erklärt sie nach dem Sex, sie brauche mal Zeit. Er versteht die Welt nicht mehr und irrt durch argentinische Städte. Leider ist auch der Film genauso unentschlossen wie sein Protagonist.

The Future von und mit Miranda July zeigt Sophie und Jason, ein Paar der Facebook-Generation. Damit überhaupt etwas in ihrem Leben passiert, beschließen sie, eine Katze zu adoptieren. Auf die Katze müssen sie noch einen Monat warten. In dieser Zeit verliebt sich Sophie aber in einen anderen Mann, Jason entscheidet sich zu einem Engagement in der Umwelt-Bewegung. Es geht darum, ob es gelingen kann Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für den anderen, für die Katze, für sich selbst. Ob die beiden wirklich eine Zukunft haben, muss offen bleiben.

Auch das namenlose Paar in Kommt Regen, kommt Sonnenschein (Saranghanda, Saranghaji Anneunda) von Lee Yoon-ki ist gerade dabei sich zu trennen. Auf dem Weg zum Flughafen sagt sie's ihm. Der Film zeigt den letzten gemeinsamen Tag in der Luxuswohnung. Tasche packen, Kaffee kochen, alles geschieht langsam, behutsam, ohne Aufregung, aber auch ohne Gespräch über das, was beide bewegt. Ein desillusioniertes Paar, und draußen regnet es ununterbrochen, der Soundtrack ist der Regen. Das aufregendste, was geschieht, ist der Besuch der Katze der Nachbarn. Der Film besticht durch die großartige Ausstattung, das Zeigen und Aushalten der Sprachlosigkeit und – den Regen.

Trennungen führen in diesen Filmen nicht zu Gefühlsausbrüchen und Rosenkriegen. Eher liegt eine Melancholie über dem Abschied. Die Trennung vom Partner ist ein Abschied auch von einem Teil des bisher gewohnten Lebens. Die Zukunft ist ungewiss, die Schritte sind erst tastend.


4.
Trennen wird sich auch das glücklich scheinende Ehepaar in Ulrich Köhlers Schlafkrankheit.  Diese Trennung wird aber nicht gezeigt, man muss sie sich erschließen. Köhler, der als Kind selbst zeitweise in Afrika gelebt hat, zeigt den Zusammenstoß der Kulturen unter dem Vorsatz der Entwicklungshilfe. Der deutsche Arzt Ebbo lebt mit seiner Frau Vera in Kamerun. Er hilft, er lebt aber auch wie ein Gutsherr. Die Rückkehr nach Deutschland steht bevor, man nimmt Abschied, Frau und Tochter fliegen vor.

Jahre später macht sich ein afrikanischstämmiger französischer Arzt auf den Weg, um Entwicklungshilfeprojekte zu evaluieren. Er trifft auf Ebbo. Dieser lebt inzwischen mit afrikanischer Frau und Kind auf einer herunter gekommenen Medizinstation. Ebbo konnte sich anscheinend leichter von seiner Frau als vom Leben auf diesem Kontinent verabschieden. Irgendwie hat sich Ebbo in einem dunklen Afrika verloren.

Die Atmosphäre ist dicht, wirkt authentisch. Wichtige Themen werden gezeigt: wie zeitgemäß ist Entwicklungshilfe? Wie ist das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Helfern? Wie verändern sich die Europäer in Afrika? Allerdings findet der Film keine Geschlossenheit, Symbolisierungen (der finstere Urwald, die Legende von einem Nilpferd) stören. Die Thesen sind allzu hölzern vorgetragen. Am Ende gab's trotzdem den Silbernen Bären für die beste Regie.


5.
Eine Familiengeschichte zeigt der Preisträger der Ökumenischen Jury im FORUM En terrains connus (Familiar Ground) von Stéphane Lafleur aus dem französischsprachigen Kanada.

Eine Hauptrolle spielt die winterliche Landschaft Kanadas. Eine zweite die drei Betriebsunfälle, die zwar nicht gezeigt werden, dafür das Geschehen strukturieren.

Maryse lebt mit ihrem Mann in einer längst nicht mehr innigen Beziehung. Ihr Bruder Benoît wohnt immer noch bei dem alten, übergewichtigen Vater. Ein abgetrennter Arm, ein Prophet aus der Zukunft, eine Fahrt der Geschwister zu Stätten der Kindheit führen die Handlung weiter. Ein Film mit Humor, ohne die Protagonisten vorzuführen. Zugleich ein Drama über in die Jahre gekommene Beziehungen. Mit einem Blick für Typisches und Skurriles erzählt der Film die Geschichte dieser Menschen, er "ist innovativ in seinen warmen Bildern und menschlich humorvollen Momenten. Er zeigt, wie Beziehungen in einer entfremdeten Welt zerbrechlich werden. Die Dialoge sind knapp und gut inszeniert, der Soundtrack verbindet sich sehr effektvoll mit dem visuellen Eindruck"  (Begründung der ökumenischen Jury).


6.
Albanien ist Schauplatz zweier vielbeachteter Filme.

Im FORUM war der Film Amnistia (Amnesty) des albanischen Regisseurs Bujar Alimani zu sehen. Um europatauglich zu werden, humanisiert Albanien seinen Strafvollzug, einmal im Monat dürfen die Gefangenen eine Stunde ungestört mit ihren Ehepartnern in einem verschlossenen Raum verbringen. Eine Frau besucht ihren Mann im Gefängnis, ein Mann besucht seine Frau im Gefängnis. Die Partner im Gefängnis bleiben ohne Gesicht, der Geschlechtsakt unpersönlich. Die Frau und der Mann begegnen sich auf den Wegen zu ihren gefangenen Partnern, einmal müssen sie ad hoc als Trauzeugen für ein drittes durch die Gefängnismauern getrenntes Paar fungieren.

Vorsichtig beginnt eine Liebesgeschichte, eine Befreiung. Der Schwiegervater beargwöhnt die Schwiegertochter. Eine Amnestie führt zur Freilassung der gefangenen Partner, die Befreiungsgeschichte der Liebenden ist damit zu Ende, Gewalt steht am Ende. Wir sehen ein urbanes Albanien, arm, trist. Die Einsamkeit der Protagonisten drückt sich in den zurückgenommen Farben, den braun getönten Bildern aus.

Mit satten Farben dagegen wird uns das albanische Leben auf dem Land in The Forgivenes of Blood (WETTBEWERB) des amerikanischen Regisseurs Joshua Marston (Maria voller Gnade) vorgestellt. Im Konflikt zweier Familien um ein Stück Land kommt ein Mann zu Tode. Der Vater des 17jährigen Nik ist der Beihilfe zum Mord verdächtig und muss untertauchen. Das Leben der  Familie ist mit einem Mal auf den Kopf gestellt.

Still aus "The Forgiveness of Blood"


Der Film fokussiert auf die junge Generation. Nik hatte Pläne für ein Internet-Cafe, ist zudem verliebt. Nun muss er zu Hause bleiben, da alle männlichen Mitglieder der Familie von der Blutrache der Familie des Opfers bedroht sind. Seine Schwester Rudina muss ihre erfolgversprechende Schulkarriere abbrechen, um zum Einkommen der Familie beizutragen. Nicht nur die drohende Blutrache, auch die Isolation zermürben die jungen Mitglieder der Familie, die für die Traditionen und Ehrvorstellungen kein Verständnis mehr haben. Ein eindrücklicher Blick auf eine Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne. (Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury)


7.
Die Verarbeitung von Gewalterfahrungen ist weiterhin ein Thema vieler Filme.

Invisible (Lo Roim Alaich) von Michal Aviad beruht auf einer tatsächlichen Geschichte. Zwei israelische Frauen begegnen einander durch Zufall. Beide wurden vor 20 Jahren Opfer des gleichen Vergewaltigers. Die eine möchte so viel wie möglich über die Ereignisse erfahren, die andere hat das Geschehen verdrängt, möchte es auch nicht mehr an sich heranlassen. Der Schatten der Tat liegt bis heute auf ihrem Leben, spiegelt sich in Verhaltensweisen im Alltag. (Preis der Ökumenischen Jury in der Sektion PANORAMA)

Auch der israelisch-britische WETTBEWERBs-Beitrag Lipstikka (Odem)  von Jonathan Sagall handelt von einer lange zurückliegenden Vergewaltigung. Einst, in Palästina, waren Lara und Inam Freundinnen; nun, in London, leben sie ein höchst unterschiedliches Leben und haben auch höchst unterschiedliche Erinnerungen an die Geschehnisse von damals. Unbefriedigend bleiben die allzu geleckten Bilder, unbefriedigend bleibt auch das überraschende Ende, das alles zuvor Gesehene neu erklären möchte.

Die Dokumentation Barzakh  des litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravicius "zeigt nachdrücklich die Wut und die Verzweiflung über Unrecht und Menschenrechtsverletzungen, die in Tschetschenien nach dem Abzug der russischen Truppen zurückbleiben" (aus der Begründung der Ökumenischen Jury für die Lobende Erwähnung in der Sektion PANORAMA).

Still aus "Barzakh"


8.
Eine fast nostalgisch anmutende Schwarz-Weiß-Optik verwendet der niederländische Filmemacher Tom Fassaert in seiner Dokumentation De Engel van Doel, in der er eine Ortschaft und ihre Menschen portraitiert. Das belgische Dorf Doel bei Antwerpen soll schon seit vielen Jahren abgerissen werden, die Erweiterung des Überseehafens ist geplant. Die letzten dort noch lebenden Menschen zeigt der Film. Zwischen Immer-so-weiter-Machen, Sich-Fügen, Nicht-wahrhaben-Wollen und Widerstehen sind ihre Haltungen angesiedelt. Der Film fokussiert auf den katholischen Priester, der während der Dreharbeiten sterben wird, und Emilienne, der toughen älteren Dame, die sich nicht einschüchtern lässt. Über Jahre hinweg hat Fassaert geduldig das Vertrauen der Dorfbewohner gewonnen. Er kommt seinen Hauptpersonen sehr nah, zeigt sie warmherzig und mit großer Sympathie. Über die Menschen nähert er sich dem großen Thema: den lokalen Auswirkungen der Globalisierung. Doel steht für viele Orte auf der Welt. (Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury in der Sektion FORUM)

Still aus "De engel van Doel" ("An Angel in Doel")


9.
Das amerikanische Kino präsentierte sich auf der Berlinale nicht von seiner schlechtesten Seite.

Fulminant war der Western-Auftakt der Berlinale mit True Grit  der Gebrüder Coen, eine Neuverfilmung des Romans von Charles Portis. Die vierzehnjährige Mattie ist von dem Gedanken bewegt, dass der Mord an ihrem Vater gesühnt wird. Den Strafverfolgungsbehörden traut sie nicht so ganz, sie mietet sich selbst einen Marshall und macht sich mit ihm und einem Ranger auf die Suche durch den Wilden Westen. Wunderbar, wie die auch erst vierzehnjährige Hauptdarstellerin Haillee Steinfeld Stars wie Jeff Bridges und Matt Damon ausspielt. Ein derber und zugleich hintersinniger  – von den Gebrüdern Coen bekannter – Humor macht den Film zu einem Vergnügen.

Großes amerikanisches Schauspieler-Kino bietet auch der Film zur Finanzkrise: Margin Call von JC Chandor. Die Nacht vor dem Crash: Junge Broker decken in einer New Yorker Bank die ruinösen Wertpapieranlagen der Bank auf. Die Informationen waren ihnen am Vortag gerade noch von einem Abteilungsleiter zugespielt worden, der im Zuge einer routinemäßigen Umstrukturierung entlassen worden war. In der Nacht reisen nach und nach immer höhere Chefs der Bank an. Man steht vor der Entscheidung: Die Bank zugrunde gehen lassen oder am nächsten Morgen noch möglichst viele faule Papiere an die Kunden verkaufen, bevor die Blase platzt, damit aber diese oft langjährigen guten Kunden in den Ruin laufen zu lassen. Ein spannender Finanzkrimi. Beeindruckend auch, wie hier die so oft abgefilmte Stadt New York noch einmal neu inszeniert wird.


10.
Zwei deutsche Beiträge beschäftigen sich mit der deutschen Geschichte (und damit auch der Gegenwart).

Zu den vielen Terroristen-Filmen der letzten Jahre fügt der bisher mit Dokumentationen bekannt geworden Andres Veiel (Black Box BRD, Die Spielwütigen) einen genau recherchierten und sehenswerten Film über die Vorgeschichte des RAF-Terrorismus hinzu: Wer wenn nicht wir. Im Mittelpunkt steht zunächst das Paar Bernward Vesper und Gudrun Ensslin, die sich in Tübingen beim Studium begegnen. Sie reiben sich an den Vergangenheiten ihrer Väter. Vesper will die Werke seines in der NS-Zeit hochgeschätzten und erfolgreichen Vaters Will Vesper im eigenen Verlag neu herausbringen, Ensslin macht mit, bekommt aber mehr und mehr Zweifel. Sie steht unter dem Anspruch, es besser zu machen als ihr Vater, der als Pfarrer dem Nationalsozialismus gegenüber zwar kritisch eingestellt war, sich aber nicht zum Widerstand durchringen konnte. Im Berlin der 60er radikalisieren sich Ensslin und Vesper im Kampf der 68er-Bewegung, bis Andreas Baader das Herz und auch das Denken Gudrun Ensslins erobert. Der Rest ist bekannt. Ein wichtiger, spannend geschnittener Film über die Vorgeschichte.

Auch die Komödie Almanya – Willkommen in Deutschland der Schwestern Yasemin und Nesrin Samdereli beschäftigt sich mit deutscher Geschichte, genauer gesagt mit der Geschichte deutsch-türkischer "Gastarbeiter". Der sechsjährige Cenk fragt, ob er denn Deutscher oder Türke sei. Seine Cousine erzählt ihm die Geschichte der Familie. Humorvoll, warmherzig, leicht kommt der Film daher, dem ein Erfolg an der Kinokasse zu gönnen ist. Der Amelie-gemäße Soundtrack und ein allzu sentimentales Ende federn die Geschichte ab, die auch entlarvender hätte erzählt werden können. Durch die Migration und unterschiedliche Wertesysteme entstehende Konflikte werden nicht verschwiegen, aber vielleicht doch allzu schnell harmonisiert (Unehelich schwanger? Macht nichts, Großvater hat Verständnis, aber hätte der Vater des Kindes wenn schon nicht Türke, dann doch wenigstens Deutscher sein können?). Es gelingt dem Film aber immer wieder, gegenseitige Klischees ad absurdum zu führen. Ein staatstragender Film, darauf wies auch die Gegenwart des Bundespräsidenten bei der Premiere hin, für ihn dürfte es der Film zum Thema seiner Amtszeit sein: Integration.


11.
Wim Wenders kann auch Dokumentarfilm. Und wie! Wie bei Buena Vista Social Club hat er nun auch für sein neues Thema eine eigene Filmsprache gefunden. Pina ist eine Hommage an Pina Bausch, die legendäre, 2009 verstorbene geniale Choreographin, Tänzerin und Leiterin des Tanztheaters Wuppertal. Schon lange war ein Film über die Ausnahmekünstlerin und ihre Choreographien geplant, aber Wenders war noch auf der Suche nach der richtigen Ausdrucksform. Die neue 3-D-Technik ermutigte ihn, sich an die Realisierung zu machen, da starb Pina Bausch. Mit dem Ensemble realisierte er dennoch diesen Film. Dabei wechseln Ausschnitte aus Bauschs Choreographien im Theaterraum mit Szenen, die unter offenem Himmel in und um Wuppertal getanzt werden. Dazwischen sind die Tänzerinnen und Tänzer zu sehen, sie schweigen, aus dem Off aber charakterisieren sie ihre große künstlerische Leiterin, Freundin, Förderin, erzählen bewegt von den Begegnungen mit ihr. Musik, Gestik, Mimik, Szene verschränken sich zu einem neuen Kunstwerk. Die 3-D-Technik wird alles andere als effekthascherisch eingesetzt. Eher gibt sie den Tanzenden Raum und Tiefe. Ein großartiges bewegtes Denkmal, voller Trauer, voller Leben.


12.
Ein Solitär ist der Film Das Turiner Pferd (A Torinoi Lo) des ungarischen Regisseurs Bela Tarr (Silberner Bär – Großer Preis der Jury und Preis der Fipresci-Jury). Das Ende des Kinos, so der Regisseur, zumindest sein letzter Film. Ein Mann, seine Tochter und das Pferd sind die Protagonisten des 146 Minuten langen Films, in einem strengen Schwarzweiß gedreht. Am ersten Tag kommt der Mann auf der vom Pferd gezogenen Kutsche nach Hause, minutenlang dauert diese Fahrt. Zu Hause auf dem Gehöft führt die Tochter das Pferd in den Stall, es wird gegessen und zu Bett gegangen. Gesprochen wird nur das Nötigste. In den folgenden Tagen will das Pferd nicht mehr los, später versiegt der Brunnen, das Pferd frisst nicht mehr. Am sechsten Tag verlöscht die Glut, die Kartoffeln bleiben roh. Am Ende erlischt auch das Licht. Ein grandioser Film über das Verlöschen, nicht nur des Lichtes, auch des Kinos.