Politische Relevanz und ästhetische Ambition charakterisierten einen Großteil der Filme des Forum-Programms. Mit ihnen erfüllte es das immer wieder neue Versprechen des Kinos, die Welt mit anderen Augen zu erfahren. Und mit unseren Augen andere Welten. Die großartige, dreistündige Dokumentation „Chas pidlotu“ (Time to the Target) von Vitaly Mansky beobachtet den Umgang mit Leid und Schmerz, mit Verlust und Tod in seiner Heimatstadt Lviv ‒ und seinen Wandel über die Fortdauer des Krieges hinweg. Ein streng stilisierter Spielfilm wie „Cadet“ von Adilkhan Yerzhanov führt mit Elementen des Horrorfilms und am Beispiel einer Kadettenanstalt die Erbschaften von Sadismus, Gewalt und Menschenverachtung im postsowjetischen Kasachstan vor Augen. In Randzonen unserer Aufmerksamkeit zieht uns, wiederum dokumentarisch, „Colosal“ von Nayibe Tavares-Abel über die jahrzehntelange Unterdrückung der politischen Opposition in der Dominikanischen Republik, oder, fiktional, „Vaghachipani“ (The Tiger’s Pond) von Natesh Hegde über die gewaltsame Beseitigung eigenwilliger, unangepasster Charaktere in Südindien, die die politische Karriere eines Geschäftsmannes gefährden.
Ein Beitrag zu unseren aktuellen Debatten ist „Holding Liat“ von Brandon Kramer aus den USA (Preis der Ökumenischen Jury und Dokumentarfilmpreis des Festivals). Er folgt in Form einer Reportage den Bemühungen der Familie einer Hamas-Geisel vom 7. Oktober, vor allem des Vaters, seine Tochter freizubekommen – mit Hilfe amerikanischer Freunde und voller Misstrauen gegenüber der der israelischen Regierungspolitik. Gegen alle Erwartungen haben sie Erfolg. Liat gehört zu denen, die bei der ersten Feuerpause zwischen Israel und der Hamas Ende November 2023 freigelassen werden. Quer zu den politischen und militärischen Fronten hält sie, eine Friedensaktivistin, trotz der Ermordung ihres Mannes und ihres eigenen Leids an der Idee einer Versöhnung zwischen Israel und den Palästinensern fest. Sie – und der Film – verleiht denen eine Stimme, die nach Lösungen jenseits der Gewalt suchen.
Immer wieder setzte das Forum auf Filme, in denen uns die Welt und wir uns selbst fremd werden. Wie in „After Dreaming“ von Christine Haroutounian, die, geboren in den USA, dem Exil ihrer Eltern, in Armenien ihren ersten Spielfilm gedreht hat. Er beginnt mit einer beklemmenden Szene. „Der Krieg ist vorbei,“ sagt der Brunnenbauer beschwichtigend. Zu denen, die jenseits des Wassers, in dem ein Pferd zu versinken droht, ein Gewehr auf ihn gerichtet haben. „Der Krieg war nie zu Ende,“ antwortet einer von ihnen. Vor dem Schuss.
Folgt nach den Träumen das Erwachen? Oder der Tod? Von einem Entweder-Oder will der Film nichts wissen. Er verharrt auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, Imagination und Wahrnehmung. Man kann sich in diesem Schwebezustand verlieren, aber auch gefangen fühlen.
Claudette, die Tochter des Brunnenbauers, soll von seinem Tod nichts erfahren, bis die Beerdigung vorüber ist. So will es die Familie, Fürsorge hält die Wahrheit fern. Ein junger Soldat, Atom, soll sie auf einer Fahrt durchs Land mitnehmen. Wackliger könnte der Grund einer Erzählung kaum sein, die vom Erzählen auch kaum etwas wissen will. Lange bleiben sich die beiden fremd, Fragen Claudettes ins Blaue, abweisende Bemerkungen Atoms unterbrechen das Schweigen nur gelegentlich. Und doch, wer fragt noch nach Erklärungen, liegen sie sich irgendwann in den Armen.
In einer staatlich geförderten Massenhochzeit verliert sich ihre Geschichte. Später wirbelt eine Kirche durchs Bild und kommt mit Turm und Dach nach unten zum Stehen, als stürze sie in den Himmel hinab. Sie gehört zu wiederkehrenden religiösen Elementen wie Ikonen an den Wänden oder ein von Frauen gesungenes Vaterunser ganz zu Anfang. Sehr viel Halt vermögen auch sie nicht zu geben.
Eine Ungewissheit anderer Art kennzeichnet den Dokumentarfilm „La memoria de las mariposas“ (The Memory of Butterflies; Preis der Fipresci-Jury) der peruanischen Regisseurin Tatiana Fuentes Sadowski. Ihr Ausgangspunkt ist ein Foto von 1910, das einen Jungen und einen Mann, Omarino und Aredomi, aus einem indigenen Volk zeigt, das im Grenzgebiet zwischen Peru und Kolumbien lebte und, wie andere Stämme, Opfer der damals blühenden Kautschukindustrie wurde. Mehr als 40.000 Menschen starben an der brutalen Ausbeutung durch die beteiligten Unternehmen. Ein nur bruchstückhaft aus der Perspektive der Ausbeuter überliefertes Kapitel der Kolonialgeschichte, das der Film durch löchriges, verschrammtes, flackerndes Archivmaterial, Schriftzeugnisse, Reflexionen und Kommentare der Regisseurin und neu gedrehtes Super 8-Material von Begegnungen mit den Überlebenden und ihren Nachkommen rekonstruiert.
Auch dem neuen Material hat die Regisseurin das beschädigte Aussehen der überlieferten Zeugnisse gegeben. Wie mit ihrer Montage trägt sie damit der Lückenhaftigkeit der Erinnerung Rechnung und gibt zugleich einer Haltung Ausdruck, die nicht Souveränität über das Vergangene beansprucht, sondern eine bewusste Distanz wahrt. Ergebnis ist eine experimentelle Collage, die alles, Verstehen und Nachempfinden, dem Zuschauer überlässt.