Mit einem jungen neuen Team unter der Leitung von Joanna Szymańska-Szcześniak und dem Programmdirektor Bartłomiej Pulcyn startete das Warschauer Filmfestival bei seiner 41. Ausgabe in gleich acht verschiedenen Spielstätten. Die Neuausrichtung kam bereits im visuellen Erscheinungsbild zum Ausdruck. Neben den traditionellen internationalen Wettbewerben für Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmen, Erstlingswerken und Sondervorführungen gab es auch neue Sektionen. Etwa „Konfrontationen“, eine 24 Filme umfassende Reihe mit kontrovers diskutierten Filmen, oder „Cinema, My Love“ mit Filmen, die von Stars und Filmexperten zusammengestellt wird. Nicht zu vergessen die neue Sektion „Animus, Cinema of Values“, mit der das Publikum angeregt werden soll, sich in einer zunehmend polarisierten Welt mit Werten auseinanderzusetzen, die bis heute wirklich zählen.
Von allen diesen spannenden neuen Sektionen bekam die Ökumenische Jury, die mit Chantal Laroche Poupard aus Frankreich, Fr. Jarosław Raczak aus Polen und Holger Twele aus Deutschland besetzt war, leider wenig mit, sie konzentrierte sich auf die 15 Spielfilme des Hauptwettbewerbs. Der Eröffnungsfilm des Festivals, „Anniversary“ des in Polen geborenen und in den USA arbeitenden Regisseurs Jan Komasa, der zugleich im internationalen Hauptwettbewerb lief, markierte die Richtung, in die es in der überwiegenden Mehrzahl der Filme in dieser Sektion ging: die Bedrohung von Familie bis hin zu ihrem Zerfall, aus unterschiedlichsten Perspektiven.
In Komasas explizit politischem Film geraten die Grundfesten einer gutsituierten bürgerlichen Familie über den an Geburtstagsfeiern verankerten Zeitraum von fünf Jahren ins Wanken, als ein durch Heirat neues Familienmitglied in die eingeschworene Gemeinschaft hinzustößt. Es handelt sich um die ehemalige Studentin der mit Diane Lane hochkarätig besetzten Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie provoziert durch ein von ihr verfasstes Buch mit dem vielsagenden Titel „Change“. Es stößt bei den älteren Familienmitgliedern auf Unverständnis, macht den Sohn zum Wendehals und animiert die jüngeren Töchter zu gewaltsamem Widerstand. Schade nur, dass der handwerklich überzeugende Film arg dialoglastig geworden ist.
Visuell und moralisch besonders bemerkenswert war „Our Girls“ (Niederlande, Österreich, Belgien 2025) von Mike van Diem, die tragikomische Geschichte zweier Familien, die in einer gemeinsam erworbenen Villa seit zehn Jahren Urlaub in den Alpen machen. Vor grandioser Bergkulisse entwickelt sich ein Drama, als die beiden vom Temperament her sehr ungleichen Teenager-Töchter einen Unfall haben, der sie an den Rand des Todes bringt. Nur eine von ihnen hat eine echte Überlebenschance, wenn ihr das Herz der anderen transplantiert wird. In ihrer existenziellen Notlage gehen die Eltern der beiden Mädchen bis zum Äußersten, was die wohlgehütete Fassade der Familien zum Einsturz bringt.
Nicht minder dramatisch waren weitere Filme aus dem Wettbewerb. „Father“ (Slowakei, Tschechien, Polen 2025) von Tereza Nvotná stellt einen viel beschäftigten Geschäftsmann in den Mittelpunkt, der sich trotz seiner beruflichen Verpflichtungen liebevoll um seine Familie und insbesondere um die zweieinhalbjährige Tochter kümmert. Er bringt sie wie jeden Morgen in den Kindergarten. Nur diesmal, mitten in einer Hitzeperiode, vergisst er sein Kind im Auto, das sechs Stunden später tot ist. Überwältigt von Schuldgefühlen für das ihm selbst nicht erklärbare Fehlverhalten, das auch ein gerichtliches Nachspiel hat, gerät sein bisheriges Leben völlig aus der Bahn.
Harte Kost ist ebenfalls „Home Sweet Home“ (Polen 2025) von Wojciech Smarzowski über Gewalt in der Ehe. Eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen lernt über das Internet einen um einige Jahre älteren einflussreichen Politiker kennen und verliebt sich in ihn. Die Idylle samt schöner Urlaubsreisen scheint perfekt, bis die beiden heiraten und Nachwuchs sich ankündigt. Plötzlich zeigt der Ehemann, der sich schon immer von Frauen betrogen, sein wahres Gesicht. Seine frisch angetraute Ehefrau wird eingesperrt, gedemütigt, geschlagen und gefoltert, wobei die schweren Anschuldigungen gegen ihn von Teilen der Polizei, der Kirche und der Gesellschaft verharmlost werden und sich vor Gericht zunächst auch nur schwer beweisen lassen. Nicht nur in Polen scheint diese Thematik gegenwärtig besonders virulent. Es lässt sich allenfalls einwenden, dass der Film die entwürdigenden Gewaltszenen sowohl realistisch als auch als traumatische Angstvisionen sehr ausführlich darstellt und damit einen Teil des Publikums verschrecken könnte.
Kinder sind immer wieder die Leidtragenden von gestörten Familienbeziehungen. Der südkoreanische Film „The World of Love“ (2025) von Yoon Ga-eun geht mit überraschenden Wendungen und differenzierter Betrachtungsweise der Frage nach, ob bei einem sexuellen Missbrauch von Kindern die Opfer für ihr Leben gekennzeichnet sind. Eine 17-jährige Schülerin, die behauptet, als Kind von ihrem Onkel missbraucht worden zu sein, möchte zumindest nicht in diese Schublade gesteckt werden und kämpft in ihrer Klasse darum, gleichwohl ein Recht auf ein erfülltes Leben zu haben. – In dem hoch artifiziell gestalteten Film „Babystar“ von Joscha Bongard, dem einzigen deutschen Beitrag, rebelliert ein wohlbehütetes 16-jähriges Mädchen gegen ihre Eltern, als sie mit der Geburt der Schwester erkennt, dass sie von ihren Eltern in den sozialen Medien mit ihren Empfindungen und Erlebnissen nur übel vermarktet worden ist und dieses Schicksal ihrer kleinen Schwester ersparen möchte. – Erst nach dem Tod der demenzkranken Mutter erfahren die drei erwachsenen Töchter in „Y“ (Rumänien, Griechenland 2025) von Maria Popistasu und Alexandru Bacia, dass die Mutter seinerzeit in einem der von Diktator Ceaucescu gegründeten rumänischen Waisenhäuser tätig war, in dem die Kinder unter unwürdigen Umständen sich selbst überlassen und dem Tod geweiht waren. Nur eine der Schwestern ist bereit, sich dieser unaufgearbeiteten Vergangenheit zu stellen, wobei die Kluft zwischen der bürgerlichen Familie und den langen Szenen aus einem auch in Deutschland ausgestrahlten Dokumentarfilm zwar deutlich zum Ausdruck kommt, aber weder den damals verlassenen Kindern noch der fiktiven Familie gerecht wird.
Wenigstens ein kleines Zeichen der Hoffnung wollte die Ökumenische Jury mit ihren Preisen setzen. Eine Lobende Erwähnung ging an den französischen Film „Nino“ von Pauline Loquès, der neben der jungen Fipresci-Jury auch den von der Stadt Warschau vergebenen Hauptpreis des Festivals erhielt und damit zum großen Favoriten des Festivals wurde. Der gerade 29 Jahre alt gewordene Nino erfährt eher zufällig bei einer Untersuchung, dass er an Krebs erkrankt ist und dringend behandelt werden muss. Ihm bleiben drei Tage über das Wochenende, um sich darauf vorzubereiten und jemanden zu finden, der ihn bei der ersten Chemotherapie begleitet.
Der Debütspielfilm besticht gleichermaßen durch den kanadischen Hauptdarsteller Théodore Pellerin wie durch die Form der beobachtenden Inszenierung. Auf seiner zwischen stummer Verzweiflung und stoischer Gelassenheit schwankenden dreitägigen Reise durch die anonym wirkenden Stadtlandschaften von Paris begegnet Nino vielen Menschen, die ihr eigenes Schicksal zu tragen haben und wie Nino kaum in der Lage sind, sich mitzuteilen. Ein Film, der von Mitgefühl und großer Mitmenschlichkeit getragen ist und zeigt, dass es auch echte Freunde, Zärtlichkeit und gegenseitiges Verständnis gibt.
Der Preis der Jury ging an „Brother“ (Polen, Kroatien 2025) von Maciej Sobieszczański. In diesem anrührenden Film wächst der 14-jährige Dawid zusammen mit seinem neunjährigen Bruder in einem heruntergekommenen Mietshaus bei der Mutter auf. Der Vater sitzt wegen Einbruch und Diebstahl im Gefängnis, doch davon möchte der kleine Bruder nichts wissen. Er idealisiert den Vater und kann den neuen Freund der Mutter nicht leiden. Hin- und hergerissen zwischen den rigiden Anweisungen des Vaters und der Liebe zu Mutter und Bruder versucht Daniel, seinen eigenen Weg im Leben zu finden. Hautnah in vielen Großaufnahmen und mit bewegter Handkamera lässt der Film uns an Dawids Kampf für einen Platz im Leben teilnehmen, wobei der sympathische Hauptdarsteller in seiner Rolle voll überzeugt. Ein bewegender Film über Familienzusammenhalt, Bruderliebe und den Wert des Vergebens, der einer jungen Generation Perspektiven für die Zukunft aufzeigt.