Die Industriestadt Sheffield in South Yorkshire war lange berühmt für ihre Stahlproduktion. Sheffield Steel produzierte über Jahrhunderte den Rohstoff für die Panzer und Schlachtschiffe der britischen Streitkräfte. Legendär war auch die Cutlery, das feine Besteck, das in Sheffield mit handwerklicher Perfektion hergestellt wurde. In den 80er Jahren geriet die Stadt in eine tiefe Krise, als billige Stahlimporte den Markt für Stahl aus Sheffield unter Druck setzten. Margaret Thatchers Strategie der Zerschlagung alter Industrien und gewerkschaftlicher Macht trug außerdem dazu bei, Sheffield in den Ruin zu treiben. Die Stadt erlebte einen beispiellosen ökonomischen und sozialen Abstieg, von dem sie sich nur langsam erholte. In den letzten Jahrzehnten ist er ihr gelungen, sich neu zu erfinden und sich als kulturelles und akademisches Zentrum im englischen Norden zu profilieren.
Diese Bereitschaft, nach Niederlagen wieder aufzustehen, findet sich auch bei dem Sänger und Entertainer Dene Michael, der in den 80er Jahren Teil des erfolgreichen Pop Duos „Black Lace“ war, einem proletarischen Pendant zu George Michaels „Wham“. Sein einstiger Partner ist längst verstorben, aber Dene Michael tourt immer noch durch Clubs und Hotels im Norden Englands. Das Publikum ist deutlich älter geworden, aber erfreut sich nach wie vor an seinem Party Hit „Agadoo“, mit dem er früher die Hallen gefüllt hat.
„Still Pushing Pineapples“ von Kim Hopkins erzählt von vergangenem Ruhm und täglichen Kampf um Auftritte und Anerkennung. Hingebungsvoll kümmert sich der Sänger um seine alte Mutter, die noch einmal nach Benidorm fahren möchte, wo ihr Sohn früher vor englischen Urlaubern aufgetreten ist. Unterwegs hat sie einen Zusammenbruch und stirbt beinahe. Aber sie überlebt die anstrengende Fahrt im Wohnmobil und genießt die Rückkehr an ihren früheren Urlaubsort. „Still Pushing Pineapples“ (der Titel zitiert den Refrain von „Agadoo“) ist das melancholische Porträt eines Überlebenskünstlers, der mit einer neuen Freundin einen Neuanfang versucht.
Der Film, der das Festival eröffnete, wurde in Sheffield begeistert aufgenommen. Der Entertainer war mit seiner Freundin und unverwüstlichen Mutter zur Premiere gekommen und hatte keine Mühe, das Publikum bei der anschließenden Party in Stimmung zu bringen.
Die Einrichtung des Sheffield DocFest war 1994 eine der kulturellen Innovationen der Stadt war 1994. Es ist inzwischen das größte Festival für Dokumentarfilme im Vereinigten Königreich, zugleich ein Treffpunkt für Produzenten und Vertreter europäischer TV-Anstalten. Während öffentlich-rechtliche Sender sich auf populäre, zielgruppenorientierte Programmangebote konzentrieren, geraten Programmplätze für Dokumentarfilme zunehmend unter Druck oder werden ganz gestrichen. Das war auch in diesem Jahr zu spüren. Zugleich gibt es Berührungsängste bei heiklen Themen wie Israel und dem Gaza-Krieg mit unmittelbaren Auswirkungen auf europäische Sendeanstalten. Bei der BBC wurde eine Dokumentation über den Gazakrieg nach Vorwürfen der Einseitigkeit aus dem Programm genommen. Andererseits erfreut sich das Genre ukrainischer Kriegsdokus großer Beliebtheit. Das war schon in Cannes zu beobachten, wo es am Eröffnungstag einen Schwerpunkt mit drei Produktionen zur Ukraine gab.
Im Wettbewerb von Sheffield hatte der ukrainische Film „Cuba and Alaska“ von Regisseur Jegor Troianovskyi seine Premiere. Zwei Sanitäterinnen mit den Spitznamen Cuba und Alaska, beschließen, ihr ziviles Leben hinter sich zu lassen und an die Front zu gehen. Der Film fängt den Alltag des Kriegs nah und unmittelbar mit Handy-Kameras und Bodycams ein. Alaska wird von einer russischen Drohne schwer verletzt und durchläuft eine sechsmonatige Reha, bis sie wieder an die Front zurückkehrt. Ihre Freundin Cuba hatte sich geschworen, jede emotionale Bindung zu vermeiden, doch sie verliebt sich in einen Mitkämpfer. Einen Monat vor der geplanten Hochzeit kommt er bei einem Gefecht um.
Trotzdem sind der Kampfeswille und die patriotische Entschlossenheit der beiden Sanitäterinnen ungebrochen. Alle sind überzeugt, dass die ukrainischen Streitkräfte siegen werden. Von Kriegsmüdigkeit keine Spur. Problematische Aspekte wie Greiftrupps, die auf der Jagd nach jungen Männern in wehrfähigem Alter sind, oder Skandale um bestechliche Rekrutierungsbehörden tauchen im Film nicht auf.
Zur Premiere kamen die beiden Protagonistinnen in Kampfuniform auf die Bühne. (Später, beim Filmfest München waren sie in Zivil.) Der Regisseur Yegor Troyanovsky wurde zur zweiten Vorführung direkt von der Front erwartet. Eine betont martialische, für ein Filmfestival unübliche Inszenierung. Vor einigen Monaten in Cannes hatte sich Bernard Henry-Levy von einem ukrainischen General (ebenfalls in Kampfuniform) vor Publikum einen Orden für seine Unterstützung der ukrainischen Sache an die Brust heften lassen. In seinem vierten Ukraine Film „Notre guerre“ sehen wir ihn an der Front im Maßanzug mit Lederschuhen und weit geöffneten weißen Signature-Hemd. Mittlerweile wirkt die Mehrzahl der ukrainischen Dokumentarfilme, die mit Hilfe westeuropäischer Koproduzenten entstanden sind, in ihrer auf Sieg fokussierten Zuspitzung wie die Fortsetzung der militärischen Unterstützung mit filmischen Mitteln.
Eigentlich wollten der Norweger Morten Traavik und die amerikanische Koreanerin Sun Kim einen Film über eine Dating-Agentur in Seoul machen, die sich auf die Vermittlung nordkoreanischer Frauen mit südkoreanischen Männern spezialisiert hat. Doch im Laufe der fünfjährigen Dreharbeiten rückte die Geschichte von Yujin Han, die die Agentur aufgebaut hatte, immer mehr in den Mittelpunkt.
„North South Man Woman“ offenbart auf sehr persönliche Weise nicht nur die Mentalitätsunterschiede zwischen Nord- und Südkorea, sondern auch die Gräben zwischen Männern und Frauen in der ultra-kapitalistischen südasiatischen Gesellschaft. Yujin Han und ihre verheirateten Freundinnen lassen sich von ihren Männern nichts sagen. Im Norden waren sie die Sklavinnen ihrer Ehemänner, die glaubten, ihnen „fiele der Penis ab“, wie eine der Frauen im Film sagt, wenn sie einen Handgriff in der Küche täten. Im Süden haben sie das Heft in der Hand und sagen ihren Männern, wo es langgeht. Der Film kommt seinen Protagonistinnen sehr nahe, bei einem gemeinsamen Essen erfahren wir, was sie bei ihren Fluchtversuchen und im Gefängnis alles durchgemacht haben. Es ist faszinierend zu verfolgen, wie selbstbewusst und entschlossen die Frauen auftreten, keine Spur von Unterwürfigkeit. Dieses Spannungsfeld fängt der Film ohne Larmoyanz und mit viel Humor und ein.
Bemerkenswert waren auch zwei amerikanische Produktionen, die wie Stimmungsbilder der Trump Ära wirkten. In „The Librarians“ illustriert die Regisseurin Kim A. Snyder den Kampf von Bibliothekarinnen, die sich gegen die Zensur lokaler Schulbehörden wehren. Im Oktober 2021 verschickt der Anwalt Matt Krause, ein evangelikaler, republikanischer Abgeordneter im texanischen Parlament, eine Liste von 850 Büchern an die lokalen Schulbehörden. Es geht um Themen wie Sex und Rassismus, alles, was mit LGBTQ zu tun hat, gilt als besonders verdächtig. Die entsprechenden Titel sollen wegen ihres angeblich pornographischen Inhalts aus den Schulbibliotheken entfernt werden. Gouverneur Gregg Abbott verlangt daraufhin “the immediate removal of this graphic, pornographic material.”
Schulbibliothekarinnen in Texas und Florida werden unter Druck gesetzt, einige sogar entlassen, als sie sich weigern, die indizierten Bücher zu entfernen. In einem politisch gesteuerten Kulturkampf werden Freiheitsrechte und Bildungsinhalte zugunsten einer ideologischen Agenda eingeschränkt und zensiert. Besonders aktiv ist dabei die Gruppe „Moms for Liberty“, die 2020 in Florida gegründet wurde und nach eigenen Angaben heute 120.000 Mitglieder hat. Die Aktivistinnen sind eng mit der republikanischen Partei verbunden und verstehen sich als Kämpferinnen für traditionelle Familienwerte. Ihre Agitation zielt darauf ab, Lehrpläne und die Auswahl von Schulbibliotheken zu kontrollieren. In „The Librarians” kann man mit Schrecken beobachten, wie schon vor seinem zweiten Amtsantritt der ideologische Boden für Donald Trumps Kampf gegen die Unabhängigkeit amerikanischer Bildungsinstitutionen bereitet wurde.
In „Natchez“ lässt die Regisseurin Suzannah Herbert die Nachkommen von Sklavenhaltern und Plantagenbesitzern zu Wort kommen, die ihre perfekt erhaltenen Herrenhäuser im sogenannten Greek Revival-Stil für zahlende Touristen öffnen. Auf der anderen Seite sehen wir einen schwarzen Reiseführer, der Touren durch die pittoreske Stadt anbietet und daran erinnert, dass in Natchez, Mississippi, der zweitgrößte Sklavenmarkt der Südstaaten existierte. Das war der Stadtverwaltung bis heute kein Denkmal wert. Die in Memphis geborene Regisseurin kommt selbst aus dem Süden, was ihr den Zugang zu den Besitzern der opulenten Herrenhäuser erleichterte, die vor der Kamera unbekümmert plaudern und sich mit rassistischen Kommentaren um Kopf und Kragen reden. „Natchez“ wurde schon beim Tribeca Festival in New York als bester Dokumentarfilm mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Einmal mehr zeigte sich das Sheffield DocFest als aufmerksamer Seismograph aktueller Strömungen und Konflikte. Im Gegensatz zu dem Geschehen auf der Leinwand herrschte beim Festival selbst eine Atmosphäre der Großzügigkeit und Offenheit. Vielleicht liegt es auch am Charakter von Sheffield. Die Stadt und die Menschen in Nordengland stehen im Ruf unkomplizierter und freundlicher zu sein als ihre Landsleute im Süden.