Ökumene am Filmfestival Cannes 2014

Ein Bericht von Julia Helmke, Mitglied der Ökumenischen Jury

Nach Locarno, wo die erste Ökumenische Jury 1973 eingerichtet wurde, heisst es jetzt auch in Cannes: 40 Jahre Ökumenische Jury! 40 Jahre ökumenische Präsenz auf dem wichtigsten und größten Filmfestival weltweit. Immer noch staunt die große Mehrheit der Gesprächspartner, wenn von dieser besonderen Form kirchlicher Arbeit gesprochen wird:  „Was, ihr seid in Cannes? Finde ich ja toll, wusste ich aber gar nicht“. Tatsächlich wird über diese Präsenz in der Regel nur sporadisch und situativ bedingt berichtet, obwohl auch die Ökumenische Jury das Privileg hat, bei ihrem Gang über den roten Teppich offiziell begrüsst zu werden. Dieses Jahr wurde die öffentliche Aufmerksamkeit durch begleitende Aktivitäten wie die Herausgabe eines Sonderheftes mit einem Vorwort von Festivalpräsident Gilles Jacob und der Auflistung aller Preise der vergangenen Jahrzehnte (ein beeindruckendes Zeit-Dokument!) sowie der Verleihung eines Sonderpreises an die Gebrüder Dardenne für ihr bisheriges Filmschaffen besonders sensibilisiert. 

Prominente Jurybesetzung

Dazu beigetragen hat allerdings auch die prominente Zusammensetzung der Ökumenischen Jury in Cannes. In Vertretung von INTERFILM gehörten ihr an die deutsche Pastorin Dr. Julia Helmke vom Amt für Kunst und Kultur der hannoverschen Landeskirche und seit letztem Jahr Präsidentin von INTERFILM, Kristine Greenaway aus Kanada, frühere Leiterin der Abteilung Kommunikation im Weltkirchenrat und des Reformierten Weltbundes in Genf, sowie Jacques Champeaux als Präsident der protestantischen Filmcluborganisation Pro-Fil in Frankreich. Und die katholische Weltorganisation für Kommunikation SIGNIS war vertreten mit der Anthropologin und Filmsoziologin Maria Jose Ordonez Martinez aus Equador, dem belgischen Filmkritiker und Sprecher des Cinema-Desk von SIGNIS Dr. Guido Convents sowie dem französischen Medienbischof  Mgr. Herve Giraud, der eine besonders hohe Interview- und Gesprächsdichte aufwies. Twitter-geschult hieß es dann bei ihm zumeist:  „Drei Katholiken, drei Protestanten, drei Männer, drei Frauen. Wir sind mit dem ökumenischen Stand auf dem Filmmarkt und auch sonst mittendrin: Im Wettbewerb und der Sektion 'Un Certain Regard'. Dafür stehen wir: Expertise und Liebe zum Film und zur zeitgenössischen Beschäftigung mit der biblischen Botschaft.“

© Daniel Beguin

Der Mythos von der Himmelsleiter

Es ist immer wieder berührend,  im grossen „Salle Lumière“ mit hunderten der wichtigsten Filmjournalisten weltweit zu sitzen (über 5000 sind jährlich in Cannes akkreditiert, allerdings mit unterschiedlich guten Zugangsmöglichkeiten zu den Kinosälen) – und der Trailer beginnt, der seit vielen Jahren derselbe ist: Rote Stufen und blauer Hintergrund. 24 Stufen geht es hinauf. Sie beginnen im Wasser und enden unter dem strahlenden Sternenhimmel. 24 Bilder pro Sekunde beträgt die reguläre Bildfrequenz im Film. 24 Stufen schreiten die Stars abendlich zum Grand Théâtre Lumière im Blitzlichtgewitter der Fotografen hinauf, und von der Erde bis zum Himmel reichte auch die Himmelsleiter Jakobs, der im ersten Buch Mose davon träumt, hoch zu Gott zu steigen. Aber dann steigt ein Engel herab und kommt zu ihm, ihn zu erleuchten und zu verändern. Voilà, und schon sind wir mittendrin in dem, was ökumenische Juryarbeit ausmacht. 

„Timbuktu“ - ein fulminanter Einstieg

Der erste Film, der in diesem Jahr nach diesem Trailer gezeigt wurde, blieb so eindrücklich im Bildgedächtnis der Jury, dass sie ihn am Ende auch zum Preisträger wählte: Timbuktu von Abderrahmane Sissako (Frankreich/Mauretanien). Ein Film, der mit einer gehetzten Gazelle beginnt und einem Off-Gespräch: Lasst sie uns nicht töten, nur ermüden. Ermüdet sind auch die Einwohner von Timbuktu. Sie leben als Nomaden um die Stadt, sie leben als Fischer und Marktfrauen, als jugendliche Fussballfans oder betörende Sängerinnen. Aber sie dürfen nicht singen, nicht Fussball spielen, sie werden bedroht, in ihrer Lebensweise, ja ihrem Leben von Machthabern, die ein eigenes Verständnis von Religion unbarmherzig und extremistisch durchsetzen. So wird gesteinigt und zwangsverheiratet, und selbst der Imam wird in seiner Auslegung des Koran unterbrochen.

Dennoch ist sie da, die menschliche Widerstandskraft und ein tiefes Ja zum Leben. „Timbuktu“ führt uns in betörenden Bildern, in der Balance von komischen und tragischen Momenten in eine Welt, in der „die Religion, die Liebe, die Menschlichkeit in Geiselhaft genommen worden ist“. So nennt es der Regisseur  in der Dankesrede bei der Preisverleihung, um mit seiner Hoffnung fortzufahren, dass diese Geiselhaft nicht unendlich sein kann und es auch an den Zuschauern liegt, diesen bedrückenden Zustand zu verändern. 

Vom Salz der Erde

Die Verzweiflung über das, was Menschen einander antun, und die Hoffnung und Kraft, die im Medium von Bild und Film liegt, zieht sich auch durch den zweiten ökumenischen Preisträger: Das Salz der Erde (Le sel de la terre/The Salt of the Earth) von Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado (Frankreich) in der Sektion „Un Certain Regard“. Der Film ist ein Porträt des brasilianischen Fotografen Sebastiao Salgado, eine Hommage an seine Bilder, aber auch eine eindrucksvolle filmische Biographie. Der Mensch an den Grenzen seiner Existenz, die Grausamkeit der Hungerkatastrophen in der Sahelzone; von Genozid und Kriegswirren in Ruanda und im Kongo wird erzählt, dann aber auch von der Schönheit, dem  Geschenk, das Salgado sich und seiner heimatlichen Erde schenkt: Die Wiederaufforstung. Sie gelingt und mündet in den Bildband „Genesis“ über die Wunder der Schöpfung.

Still aus "Das Salz der Erde" ("The Salt of the Earth")

Sehenswerte Filme

Weitere Filme, die in der gediegenen Auswahl dieses Jahres auch bei den Filmkritiken weit vorne lagen, sind sehenswert: Wintersleep von Nuri Bilge Ceylan, der Gewinner der Goldenen Palme. Zwei Tage und eine Nacht der Gebrüder Dardenne, in Cannes schon zweimal mit dem Hauptpreis geehrt, aber diesmal übergangen; Mr. Turner von Mike Leigh, dessen Titelfigur, der berühmte englische Maler, von Timothy Spall gespielt wird (Silberne Palme für den besten Darsteller); oder auch das elegisch-schamanische Still the Water der Japanerin Naomi Kawase. Auffällig sind die vielen – und unterschiedlichen –  Geschwister- und Eltern/Kind-Beziehungen, die thematisiert wurden, sei es in Foxcatcher mit Steve Carrell, Channing Tatum und Mark Ruffalo, sei es bei Le Meraviglie von Alice Rohrwacher oder eben auch das furiose und atemlose Mommy von Xavier Dolan. Filme, die von der Sehnsucht erzählen, dass es Beziehungen gibt, die tragen. Unbedingt. Ungefragt in all der Beliebigkeit der Welt, trotz aller Komplexität, die der Mensch so in sich trägt. Ein gewisser Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit. Das erklärt vielleicht auch, dass manche doch ein wenig mehr Überraschungen und weniger Ausstattungskino von Cannes 2014 erwarteten. Doch für mich sind diese Filme ein Zugang zur Wirklichkeit, ein seismographischer Eindruck, der nachhallen wird. Wie auch die Bilder der vielen Tiere, die in fast jedem Film mitspielten, als gejagte, hungernde, als Opfertiere und Familienersatz, als freie Existenzen; als Kreaturen, die real sind und nicht virtuell. Welche Freude, das erlebt zu haben. 

Dabei schwingt eine grosse Dankbarkeit mit für die vielen Menschen, die sich dafür engagieren, dass die ökumenische Juryarbeit in Cannes präsent ist und bleibt, in aller Koordination und Öffentlichkeitsarbeit, mit der gut gepflegten Homepage, bei den ökumenischen Gottesdiensten und der Straßensperre, welche die öffentliche Begegnung der evangelische und katholische Kirche beim „verre d’amitié“ ermöglicht.