Zwischen Kaurismäki und Gudmundsson

Bericht von den Nordischen Filmtagen Lübeck 2002. Von Heike Kühn
Mavahlatur (Möwengelächter)

Preisträger der INTERFILM-Jury: "Möwengelächter"


Sicher hat der Mann eine Vergangenheit. Allein, auf der langen Fahrt in die Stadt will niemand etwas davon wissen. Wer aber sind wir, wenn wir uns nicht erklären können?  Der Mann hat ein trauriges Gesicht, in dem Sorge und Zuversicht miteinander ringen. Sein Koffer und ein Schweißerhelm verraten, dass er sich in der Stadt einen Namen machen will. Viele Bäume bleiben entlang der Bahnstrecke zurück, ein ganzes Provinzleben, bis der Mann zur Nacht in der Stadt ankommt. Viel darf es nicht kosten, das neue Leben, so legt er sich auf einer Parkbank nieder. Eine halbe Stunde später ist der Mann tot. Drei brutale Schläger begnügen sich nicht damit, ihn auszurauben und seine Papiere wegzuwerfen. Sie springen ihm ins Gesicht, sie zertreten seine bescheidenen Träume.


Bereits in Cannes ausgezeichnet

Es ist die schrecklichste Szene, die man jemals in einem Film des Finnen Aki Kaurismäki aushalten musste. Am Anfang seines 1988 entstandenen Films Ariel erschießt sich ein arbeitslos gewordener Minenarbeiter. Aber der Tod bleibt unsichtbar und sein Erbe ist Lakonie. Der Selbstmörder hinterlässt dem Helden des Films ein weißes Cabrio, dessen Verdeck sich nicht schließen lässt. Einen schneeverwehten Film lang rüttelt der gleichfalls entlassene Minenarbeiter Taisto, der in Ariel Arbeit sucht und Frau und Kind findet, an dem störrischen Verdeck. Am Ende des Films wird sein Freund Mikkonen während einer Schießerei tödlich getroffen. Fallend stürzt Matti Pellonpää, der viel zu früh verstorbene Kaurismäki-Darsteller par excellence, auf einen Knopf am Armaturenbrett des Cadillac. Wie von Zauberhand überzieht das ausgeklinkte Dach seine Leiche mit einem schwarzen Sargdeckel. Mit dem aufopferungsbereiten Freund wird der Cadillac verschrottet, der amerikanische Traum, der der hochsymbolischen Kälte in Finnland nichts entgegenzusetzen hat.  Ruhe sanft, arme Hoffnung – grausamer ging es bei Kaurismäki nie zu. Wenn sich der Schwerverletzte  aus seinem in Cannes zweifach preisgekrönten Film Der Mann ohne Vergangenheit nur noch zum Sterben in ein Krankenhaus schleppen kann, muss diese ungewohnte Drastik einen anderen Grund haben.


„Wir haben hier einen Toten“, befindet der Krankenhauspförtner. Die Ärzte, die den zerschundenen Körper verdrahten und an Apparate hängen, lesen anhand der Herzfrequenz nichts anderes ab. Kaum sind die Sachverständigen der Normalität gegangen, kommt der Film zu sich. Kerzengerade richtet sich der finnische Schmerzensmann auf seinem Totenbett auf, wickelt sich aus Bandagen, die ihn mit Lazarus verbinden, schlüpft in seine Kleider und wankt von dannen. Eine Auferstehung hat es lange nicht gegeben. Wenn sie ausgerechnet im Kino stattfindet, dann deshalb, weil das Kino des finnischen Humanisten Aki Kaurismäki schon lange mit dem todesverliebten Vergnügen etlicher Kollegen hadert.

Der Tod hat einen Platz in Kaurismäkis Werk, nicht größer und nicht kleiner als der Lebenshunger, der seine Protagonisten überfällt, wenn es scheinbar schon zu spät ist. Die Abwägung von Leben und Tod hat Kaurismäkis schon immer aufs Komischste in seine eigenen Filme eingeschmuggelt, verwoben mit seiner Bestandaufnahme der neuen, von Massenarbeitslosigkeit genährten Verelendung. In Wolken ziehen vorüber steht das arbeitslos gewordene Ehepaar Ilona und Lauri vor dem Ruin. Sie sind erschöpft, gedemütigt, geschlagen. Wohin sollen sie zur Tröstung gehen, wenn nicht ins Kino? Die Kassiererin vertreibt sich die Zeit gerade mit der Herstellung von Popcorn, als die Kinotür zum Lärm von Gewehrsalven aufschwingt  und ein vor Zorn rauchender Lauri herausstürzt. "So die Leute zu betrügen", schnaubt der vom lebensfremden Geballere Angewiderte und verlangt sein Geld zurück. Dass er für die Karten nichts bezahlt hat, weil die Kassiererin seine Schwester ist, tut da nichts zur Sache. Stellvertretend für seinen Regisseur hat Lauri nichts übrig für Filme, in denen Leute abgeknallt werden, um zur Unterhaltung beizutragen.

Lauris Revolte setzt Maßstäbe. Wer sich den Bildern der künstlich herbeigeführten Zerstörung verweigert, setzt das Kino der Folgenlosigkeit außer Kraft. Dass alles möglich ist, so man nur James Bond heißt und sich auf dem sicheren Terrain der Spezialeffekte bewegt, degradiert die Welt zum Idiotenhügel, zum Übungsgelände selbstverliebter Möchtegern-Erlöser. Kaurismäkis Anteilnahme an den Allerweltssorgen seiner Protagonisten gibt dem Kino einen lang aufgegebenen Anspruch zurück, eine Bestärkung des Einzelnen, die ihre Kraft aus einem beinah religiös zu nennenden Gefühl sozialer Verantwortung bezieht: "Als ich anfing zu schreiben", so Kaurismäki in einem Interview zu Wolken ziehen vorüber, "plazierte ich als Aufgabenstellung das Gefühl emotionaler Befreiung aus It's a wonderful life in die eine äußere Ecke und Vittorio De Sicas Fahrraddiebe in die andere und die finnische Realität dazwischen". An diese  Verortung eines magischen Neorealismus knüpft Der Mann ohne Vergangenheit an, wenngleich Fahrraddiebe dem Vorbild von de Sicas Das Wunder von Mailand gewichen ist.


Das Wunder von Helsinki geschieht, wenn die Vernunft der Apparate dem Blick des Menschen weicht. Zwar bemerkt zunächst nur ein Bettler den Auferstandenen, zieht ihm die Stiefel von den Füßen und lässt ihn am Hafen liegen. Haben nicht auch andere seltsame Heilige ihr letztes Hemd gegeben? Freiwilliger vielleicht, doch Sentimentalität und Kitsch haben keine Chance, wenn Kaurismäki, wie immer in surreal überhöhten Farben und unwirklich echten Kulissen, dem Leben am äußersten Rande des Wohlstands nachspürt. Schließlich finden Kinder den Mann ohne Vergangenheit, wird er aufgenommen von einer Familie, die wie so viele in Schrottcontainern am Flussufer haust und sich dafür glücklich schätzt. „Danke“ ist das erste Wort, das der Fremde spricht. Eine Amnesie hält ihn gefangen, aber der Verlust der Identität setzt ihn auch frei für die Entdeckung des eigenen Lebens.

Die Nordischen Filmtage Lübeck hatten Kaurismäkis Film in ihr Wettbewerbsprogramm aufgenommen, und da war er nun, ein Solitär, dem alle Preise gebührt hätten, einschließlich des Preises für das beste Debut, weil es schließlich eine Kunst sich, sich treu zu bleiben und sich doch mit jedem weiteren Film aufs Neue auf die Welt zu bringen. Insbesondere hätte dem Film, wie Detlef Kühn in epd-Film bemängelte, der Preis der kirchlichen Interfilm-Jury gebührt. Was aber, wenn ein Film bereits einen Preis bekommen hat, an dem Interfilm beteiligt ist wie Der Mann ohne Vergangenheit den Preis der Oekumenischen Jury von Cannes? Immerzu dasselbe auszuzeichnen, und sei es noch so rühmenswert, kann nicht Aufgabe einer Interfilm-Jury sein. Wer, wenn nicht Interfilm, sollte, per definitionem, nach Alternativen suchen? Nach dem anderen, unbequemen Kino, das uns auch aus der Ruhe aufstört, die einkehrt, wenn man sich darauf einigt, den klügsten, besten, schönsten Film des Jahres 2002 schon gesehen zu haben.


Vom Selbstverständnis einer Interfilm-Jury

Andere mögen Preise vergleichen, wir vergleichen Dramaturgien, Schnitte und Einstellungen, in denen aus ein oder zwei Bildern der ganze Film herausschaut, um einen einzigen Preis vergeben zu können – und den eben nicht billig. Die Frage, welchen Kriterien ein Interfilmpreisträger standhalten muss, hat noch selten eine Jury so umgetrieben wie diese, in der nicht bloss ein Lübecker Propst, ein norwegischer Pfarrer a. D., ein estnischer Kulturschaffender und eine Frankfurter Filmkritikerin aufeinandertrafen. Oh, nein, was da miteinander stritt, lachte, viel lachte, und unermüdlich ein Für-und-Wider formte, das sich aus höchst unterschiedlichen Wahrnehmungen und einer urchristlichen Leidenschaft für das filmische Detail zusammensetzte, (denn war nicht Gott der erste Filmkritiker als er auf  wolkenfreier Himmelsleinwand der Welturaufführung einer Komödie namens "Sieben Tage" beiwohnte?), kurzum, was in Lübeck mit wachsender Sympathie voneinander lernte und einander herzlich spottete, das waren: Ein humorvoller, wehrhafter Protestantismus, eine großmütig um Verständnis aller Lebensformen bemühte norwegische Spielart desselben Glaubens, ein aufgeklärter estnischer Skeptizismus, der in allen Hervorbringungen des menschlichen Geistes zuallererst nach der ästhetischen Berechtigung solchiger suchte, sowie eine Frankfurter Neigung zur gesellschafts- und kunstkritischen Analyse, die in meinem Fall ein getauftes Heidentum, samt Gott und Baumgottheiten, nicht ausschließt.

Können Sie sich das vorstellen? Ich meine nicht die Sache mit den Baumgottheiten, sondern das Ausmaß unserer Diskussionen. Nicht, dass es nicht genügend Filme gegeben hätte, die aussahen, als seien sie eigens für kirchliche Jurys gedreht worden. Was nur für die Unkenntnis spricht, die das weltliche Filmschaffen kirchlichen Jurys entgegenbringt. Es scheint der Irrglauben verbreitet, kirchliche Jurys müssten sich, falls Kaurismäki, der Jongleur der ethischen Ästhetik, der Dompteur der ästhetischen Ethik, nicht infrage kommt, mit Wonne auf Filme stürzen, die dramaturgische Mängel, einfältige Weltbilder und schlichte Gemüter durch eine überwältigende Demonstration dessen kaschieren, was Thomas Mann einmal als „kuhwarme Menschlichkeit“ bezeichnet hat. Übergehen wir die bedauerlichen Zeugnisse derartiger Missverständnisse, aber setzen wir auch hinweg über den außerordentlich bemerkenswerten Film In Kenntnis der Wahrheit, der den dänischen Regisseur Nils Malmros in unserer Runde zu einem geschätzten Kandidaten machte.


Mövengelächter hat viele Qualitäten

Warum haben wir uns nicht für einen Film entschieden, der auf beste protestantische Weise die Aufdeckung und von medialer Selbstherrlichkeit begleitete Anprangerung eines lange zurück liegenden Medizinskandals mit den persönlichen Zweifeln, Abwägungen und Abbitten des verantwortlichen Arztes verbindet?  Freya war schuld, Freya und die Fragen, die sie uns stellte. Agust Gudmunssons Film Möwengelächter, dessen Hauptfigur die Ende der vierziger Jahre aus Amerika nach Island zurückkehrende Freya ist, hat viele Qualitäten. Die Art und Weise, wie der Schnitt in die Handlung einbricht, sie bald ironisch unterhöhlt, bald mythisch überhöht, ist harsch und lockend zugleich. Keines von Freyas unzähligen Geheimnissen wird durch den Schnitt verraten. Und doch wird uns nahe gelegt, das Feuer, das im Haus eines trunksüchtigen Ehemannes ausbricht, der eine von Freyas geliebten Cousine tyrannisiert, könnte durchaus zu dem Lächeln passen, das Freya am Morgen danach für die Nachricht vom Tod des Despoten übrig hat.


Freya ist die Projektion unserer wildesten Träume, eine bildschöne, zumindest an Kleidern und Listen reiche Witwe, deren wallendes Haar heimwärts dem Boden zustrebt, aus dem Elfen und Gnome entspringen. Wie die Königin aller Fabelwesen streift Freya nachts durch die Elfenhügel. Tagsüber ist sie nordische Circe, isländische Geschäftsfrau und amerikanische Frauenrechtskämpferin. Sie angelt sich den reichsten Mann des kleinen Fischerdorfs bei Reykavik, in dem sie bei Verwandten untergekommen ist. Sie steckt sein Geld in einen Stoffladen und schenkt ihn den verschüchterten, verschmähten oder sitzengelassenen Cousinen und Tanten, die unter ihrem Möwengelächter aufblühen. Aber sie weiß die Errungenschaften ihrer Ehe auch gegen eine dünkelhafte Schwiegermutter und einen untreuen Ehemann zu verteidigen. Wenn es sein muss mit Gewalt.

Die nordische Antwort auf die Hure Babylons, ist das die Wikingerin Freya? Eine Mörderin aus Gewinnsucht, die einen Kirchenpreis erhält? Zur Beantwortung  dieser Frage muss man sich die Szene betrachten, in der Freya die Säufer des Ortes in das Haus ihrer Schwiegermutter lädt. Wo sonst die moralischen Instanzen der Anti-Alkohol- und Anti-Sünden-Liga die Plüschsessel eindrücken, macht sich Volkes Wohlsein breit. Die Armenspeisung, auch wenn sie flüssiger Natur ist, verleugnet ihre Ursprünge nicht: Brecht und das Christentum prosten einander in dieser Szene zu, aber auch eine tartüffsche Scheinheiligkeit kommt auf ihre Kosten: Mildtätig und revolutionär zu sein, und dabei die bigotte Schwiegermutter bis aufs Blut zu reizen, das alles liegt in Freyas Charakter.


Eine gibt es, die sich von diesen Facetten nicht täuschen lässt, das ist Freyas elfjährige Nichte Agga. Agga ist das moralische Korrelativ des Films, die Stimme einer Unbestechlichkeit, die zugleich auf  Eifersucht wie dem Wunsch nach allgemeingültigen Regeln besteht. Aggas Aufbegehren gegen die hypererotische Tante spiegelt die Angst vor der eigenen Zügellosigkeit, aber auch die Stadien eines nach Halt suchenden Selbstverständnisses, das von den Gewissheiten der Kindheit bis zu den Zweifeln des Frauseins reicht. Möwengelächter  konfrontiert  uns mit dem ehernen Charakter göttlicher Gesetze und dem wachsweichen Menschenherz, das viele Gründe kennt, sie zu übertreten. Im Guten wie Bösen. Wie bösartig es ist, prügelnde Ehemänner volltrunken einem Zimmerbrand zu überlassen, darüber sagt dieser Filmpreis nichts aus.

Am Ende wird bei Kaurismäki dem Mann, dem ein Leben nach dem Tode zuteil wird, eine heilsame Begegnung mit sich selbst zuteil. Die Vergangenheit holt ihn ein, und sie wird schmerzlich und komisch sein. Aber nicht komischer oder schmerzlicher als die Zukunft, die Kaurismäki seit Wolken ziehen vorüber allen seinen Protagonisten gewährt: Eine selbstironische Duldsamkeit gegenüber eigenen und fremden Schwächen, die das Happy-End durch die Auferstehung der Menschlichkeit ersetzt. Eben das ist, mögen beide Filme weiter auseinanderliegen als Golgatha und Elfenhügel, die Haltung, zu der sich in Möwengelächter die erwachsen gewordene Agga durchringt. Interfilmpreise, darauf konnten wir uns ganz schnell einigen, sind das Lob der Ambivalenz.