Wie wirklich ist die wirkliche Welt?

Festivalbericht Venedig 2011, von Heike Kühn
Aleksandr Sokurovs "Faust": Mephisto

Aleksandr Sokurovs "Faust": Mephisto


In Li Songs berühmtem Bild The Skeleton´s Illusory Performance verändert sich die Wahrnehmung der Welt. Es sei, schreibt Jeehee Hong in THE ART BULLETIN, (März 2011), der Moment in der chinesischen Malerei, in dem „zwei Motive, die sich nie zuvor einen Bildraum geteilt haben“, kombiniert wurden, nämlich „weltliches Vergnügen und Tod“. Der „Dreh-und Angelpunkt dieser unwahrscheinlichen Verbindung“, so Jeehee Hong, sei das Sehen selbst. Warum das Sehen hier dem Erkennen gleichkommt, entdeckt der Betrachter des Bildes, wenn er den Blickachsen der dargestellten Figuren folgt. Auf der rechten Seite des als Fächer gestalteten Seiden-Blattes sieht man zwei Kinder. Ein Mädchen und ihr kleiner Bruder richten sich mit Leib und Seele auf eine Marionette aus, die vor ihnen im Raum zu tanzen scheint. Die Marionette ist ein kleines Skelett, das artig die Händchen hebt, als wolle es den zu ihm hinkrabbelnden Buben berühren. 

Was die Kinder nicht sehen, erkennt der Betrachter – und mit ihm die Mutter der Kinder, die am linken Bildrand sitzend ein Baby stillt: Der Puppenspieler ist der Tod höchstselbst, der als großes Skelett entspannt auf dem Boden sitzt und dem Kinder-Theater eine zeit- und ortlose, eine weltumspannende Dimension gibt. Der Tod, der das Stück vom Werden und Vergehen aufführt, lächelt. Die Augen der Mutter sind in sich gekehrt. Sie weiß, was die Kleinen erwartet. Dennoch hat die Szene nichts Bedrohliches. Der Tod in Gestalt des großen Skeletts spielt mit seiner eigenen Existenz. The Skeleton´s Illusory Performance zeigt sowohl die Übereinkunft zwischen dem Menschen und seinem Tod, als auch die Kunst, ein unausweichliches Schicksal als Akt der Selbstverzauberung zu verstehen. Der Tod ist schon mitten im Leben, ein Zauberkünstler, der die Angst vorm Sterben kindgerecht auflockert.

Wann ging diese Heiterkeit der Welt verloren? Li Songs Tusch- und Farbzeichnung stammt aus dem 13. Jahrhundert. Goethes Faust spielt im 16. Jahrhundert. Auch Faust beginnt mit einem berühmten Vorspiel, in dem allerdings gleich zwei Strippenzieher ihre Marionetten zum Tanzen bringen. Gott und Mephistopheles gehen im Himmel eine Wette ein. Mal sehen, in welche Richtung sich Faustens Seele lenken lässt. Schon dieses Vorspiel ist weitaus unheimlicher als das Zusammentreffen von Tod und Kindern bei Li Song. Was nagt an der deutschen Seele, dass sie ein Szenario entwirft, in dem Gott als Seelenverwetter auftritt?

Der russische Filmemacher Alexander Sokurov erklärt in seiner mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Version von Faust dieses Nagen kurzerhand zum Phänomen des 19. Jahrhunderts. Sokurov versetzt Goethes Theaterstück vom 16. Jahrhundert in die engen Studierstuben, die er während seiner Recherchen bei einem Besuch von Goethes Haus in Weimar vorfand. Obwohl Goethe in Weimar schon Minister gewesen sei, so Sokurov in einem Interview mit der taz, sei das Haus verwinkelt, niedrig und mit ärmlichen Möbeln ausgestattet gewesen.

Das Winkel-Denken, die Anstrengung, um drei Ecken sehen zu müssen, weil die deutsche Metaphysik sich die gerade Verbindung zwischen Mensch und Gott nicht mehr vorstellen kann, ist in Sokurovs Film Faust eingegangen wie die Malerei des 19. Jahrhunderts. Fausts Studierstube sieht aus, als habe der arme Poet von Spitzweg sich in einen deutschen Oblomov verwandelt, der liebend gerne in seinem Bett bleiben würde, triebe ihn nicht der Hunger hinaus. 

Hunger ist ein Schlüsselwort für den Film, der so wenig eine Adaption von Goethes Faust ist, wie Faustens Hunger eine einfache Angelegenheit. „Ich habe Hunger“, das klingt aus dem Munde des deutschen Schauspielers Johannes Zeiler, der den Faust spielt, beinahe wie eine Morddrohung. Dieser Faust lebt nicht von Luft und Entsagung, noch vom Ausblick auf das Gift, das sein Scheitern als Arzt und Philosoph, als Jurist und Haupt-Gelehrter aus dem Weg schaffen soll, nein, dieser Faust hat etwas Kannibalisches, wenn er zu Beginn des Films in einem Leichnam wühlt. Viel Fleisch, viel Inneres wird da nach Außen gekehrt. Die Nahrung, die der blutüberströmte Herr Doktor sucht, ist nicht dabei. Wieder nicht die Seele gefunden, immer noch hungrig. Fast könnte man glauben, den Nachfahren eines menschenfressenden Stammes vor sich zu haben, der im Leichnam das Kraftzentrum des besiegten Gegners sucht, das es sich einzuverleiben gilt. Doch der Tote ist nur ein Schlachtfeld, auf dem der großartige Johannes Zeiler als seelisch wie materiell verarmter Faust seinem wahren Feind begegnet: dem Tod.

Faust


Der Tod hat seine Würde verloren, da ist nichts mehr von dem spielerischen Miteinander aus Li Songs Bild. Fausts Vater arbeitet als Arzt und Knochenrenker, seine Streckbank könnte in einer Folterwerkstatt stehen, seine Haltung ist die eines Mannes, der Gewalt für ein Heilmittel hält: Wenn es weh tut, tut sich was. Ob seine Patienten das überleben, ist fraglich. Für seinen gelehrten Sohn, der die Gedanken-Blässe eines Hamlets pflegt, hat der praktische Arzt nur Verachtung übrig. Man entreißt dem Tod den Patienten oder dem Patienten das Leben, Hauptsache, man handelt. 

Fausts Unfähigkeit, in den Lebenden zu wühlen, treibt ihn zum Pfandleiher, der hier den Teufel gibt. Mephisto nennt sich Mauritius und nimmt in einem rhizomartig angelegten Bau entgegen, was seine Kunden für wertvoll halten. Keine Frage, dass sie es mottenzerfressen und entwertet wiederbekommen. Der Teufel ist die leibhaftige Zersetzung und sieht auch so aus. Ungeniert entweichen seinem birnenförmigen Körper Faulgase, sein Haar ist schütter und sein Rücken juckt. Doch anstelle der Stummelflügel, die Mephisto/Mauritius dort vermutet, ringelt sich weiter unten am Steiß ein Schweineschwanz. Geschlechtslos, jammernd und Unruhe stiftend, begleitet Mephisto den Doktor und schwatzt ihm schließlich seine Seele ab. Mit Blut, wie schon bei Goethe so verbindlich geschildert, soll Faust den Vertrag unterschreiben. Doch seine Seele interessiert den weit weniger, als die Schreibfehler des Teufels. Auf gut Deutsch, denn der ganze Film, getragen von einem russisch-deutschen Schauspielerteam, ist nach Sokurovs Willen in deutscher Sprache: Wenn nur die Sprache fehlerlos ist, kann das Töten kein Fehler sein.

Faust: Mephisto


Dieser verzerrten Sicht auf das Leben und die bei Goethe gegebene Seelen-Größe entspricht Bruno Delbonnels Kameraarbeit. Berühmt geworden für die Plastizität, mit der er Das fabelhafte Leben der Amelie fotographierte, hat Delbonnel diesmal das genaue Gegenteil gemeistert. Die Kino-Illusion von Dreidimensionalität wird förmlich ausgelaugt und ernüchtert, die Farben sind gräulich, die Körper flach wie die Gedanken, die sie beherrschen. Selbst den Bau-Körpern fehlt jede erhabene Dimension, die Häuser drängen und beengen, die Straßen sind immer zu klein für das Getümmel der Leiber. So wenig wie es Nahrung gibt, gibt es Platz zur Entfaltung. 

Umso erstaunlicher sind die unterirdischen Wege des Pfandleiher-Teufels, die von seiner Waren-Hölle direkt ins Freie und zu Gretchen führen: Zeit und Raum sind aufgehoben in jener Magie, die nur ein Zauberer wie Sokurov dem Kino verleihen kann. Gretchen ist ein Schmollmündchen mit zarter Haut und robusterem Gewissen, ihr Fall ganz wörtlich zu nehmen. In der schönsten Szene des an Eingebungen reichen Films steht sie auf einer Klippe, bereit, sich vor Fausts Begierde in den nassen Tod zu flüchten. Von Mephisto geführt, erreicht Faust sie rechtzeitig, um mit ihr in Zeitlupe in den kristallklaren See zu kippen – in einen metaphorischen Strudel der Begierde, der ihre Liebesgeschichte als Untergang vorwegnimmt. Denn mehr noch, als Gretchens Liebe zu gewinnen, begehrt Faust, den Tod zu überwinden.

Faust: Margarete


So nimmt es nicht wunder, dass Faust am Ende sogar den Teufel steinigt. In einer transzendentalen Leere, die, felsig und eisig, Fausts Aufstieg zum Diktator spiegelt, fasst Sokurov Goethes Faust II zusammen. Dort lässt der von Reue und Gewissensbissen getriebene Faust als Erbauer eines Staudamms ein ganzes Dorf absaufen, hier herrscht er als seelenloser Wissenschaftler Mutter Natur an: Er habe, brüllt er angesichts eines majestätisch aufsteigenden Geysirs, das Prinzip der Natur begriffen, jetzt möge ihm „das Loch“ aus dem Weg gehen.  Faust beendet nach Filmen über Hitler, Lenin und den japanischen Kaiser Hirohito eine Tetralogie des Machtmissbrauchs. „Unglückliche Menschen sind gefährlich“ zitiert dieser Dr. Faust Goethe – sein Unglück ist der Machbarkeitswahn eines vermeintlich durch Wissen gesicherten Fortschritts.

Von Sokurovs Faust und der naturverachtenden Hybris seines Anti-Helden ist es nur ein kleiner Sprung zu Sono Sions herausragendem Film Himizu. Gleichfalls im Wettbewerb plaziert, ist Himizu eine Herausforderung für Auge und Ohr. Nicht nur der Tonfall der Protagonisten, die einem japanischen Manga-Strip von Monoru Furuya entstammen, ist schrill, sondern auch die Optik des Films. Schwankend zwischen Real-Satire und bitterstem Ernst wie alle filmischen Exzesse, die Sono Sion bislang vorgelegt hat, wagt Himizu nichts Geringeres als eine Bestandsaufnahme  Japans nach dem Super-Gau. Ursprünglich angesiedelt in einer vagen Apokalypse, hat der Regisseur, der sein Land sehr lieben muss, um so unerbittlich mit ihm zu hadern, den Comic in der Zeit nach dem Erdbeben vom 11. März 2011 und der dadurch ausgelösten dreifachen Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima angesiedelt. 

Er habe lange vor der atomaren Katastrophe Selbstmordgedanken gehabt, so Sono Sion, doch die Bearbeitung der Ereignisse in Himizu hätte sich für ihn als heilsam erwiesen. An die Stelle von Hilflosigkeit und Resignation ist eine Wut getreten, die Himizu zu einem Film der Extraklasse macht. Die „Tage der Normalität“, so der Regisseur, seien gezählt. Sein Film ist ein Schrei, der über die elegische Klage hinauswächst. Hier wird ein Land von verantwortungslosen Erwachsenen porträtiert, die ihre Kinder in den Selbstmord treiben, um Versicherungsprämien zu kassieren und einen heillosen Konsum zu finanzieren. Mama und Papa treten an die Stelle des Teufels, weil sie süchtig sind nach den Versprechungen eines omnipräsenten Jugendwahns. Geile Klamotten und teure Hautcremes, Suchtmittel aller Art, Hauptsache teuer.

imizu (1)


Die Kinder, die eigentlich Jugendliche sind, antworten darauf zunächst mit Resignation. Gleich Himizu, dem schüchternen Titelhelden, dessen Namen sein Naturell offenbart - Himizu bedeutet „Maulwurf“ -, vergraben sie sich in der Arbeit, die auseinandergebrochenen Familien zu ernähren oder psychotherapeutisch zu betreuen. Die atomare Katastrophe, die Verseuchung von Wasser und Erde, die Flüchtlinge in ihren Zelten, die Gier der Yakuzas, die ihre Not ausnutzen, ist da nur das Grundrauschen einer zum Himmel schreienden Gleichgültigkeit. Der sensible und mitleidige Himizu wird zum Vatermörder, weil er die Demütigungen nicht mehr erträgt. Von Selbstverachtung gepeinigt, beschließt er, aufs Ganze zu gehen und sein Leben der Rache zu widmen. 

Wenn er schon nicht das traurig-beherzte Nachbarsmädchen lieben darf, weil er sich mit seiner Tat aus der menschlichen Gemeinschaft herauskatapultiert hat, will er dieser Gemeinschaft wenigsten dienen. Doch das Böse zu töten, ist in diesem Film keine Lösung: Nicht einmal in der von Schock und Hass verdrehten Imitation des edlen Samurai kommt Himizu zu einer eigenständigen Haltung. Während er mit einem riesigen Fleischermesser in einer transparenten Tüte durch Tokyo streift, um die Schuldigen zu töten, trifft er auf einen durchgeknallten Leidensgenossen, der ihm zuvorgekommen ist. Die Psychose, jung und ein Opfer zu sein, ist überall, und die „noble“ Gewalt nicht identitätsstiftender als der reine Wahnsinn. Der Maulwurf stellt sich schließlich der Polizei und einem langen Gefängnisaufenthalt. Doch in der selbstgewählten Buße liegt die Kraft der Erneuerung. Seine Freundin wird auf ihn warten, und das Gefängnis entpuppt sich als Wohnraum: Nie zuvor ist für den Jungen gesorgt worden, ausgerechnet der Freiheitsentzug schenkt ihm die Freiheit endlich etwas lernen zu können.

Himizu (2)


Liebe, Erotik und Tod – diese Trias dominiert die Künste. In allen Kulturen der Welt berichten Menschen oder zumindest ihre Dichter davon, dass die Vereinigung mit dem geliebten Wesen als Auflösung der Körper- und Seelengrenzen verstanden wird. Das Ich und sein Gegenüber tauschen für einen winzigen, als Glück gepriesenen Moment mehr aus denn Körpersäfte. Etwas fließt, etwas verströmt sich, etwas öffnet sich zugleich für den Kosmos und dehnt ihn zur Körperfläche der Liebenden aus. Zumindest idealerweise. Aber seit wann sind Ideale lebbar? 

Schon bei Goethe, aber auch in Sokurovs Faust ist die Liebe ein Verbrechen, das erst den Tod von Gretchens Mutter, dann den Tod des unehelich mit Faust gezeugten Kindes und schließlich den Tod der Kindsmörderin Gretchen nach sich zieht. In Himizu ist die bürgerliche Liebe ein Teufelspakt, der der Produktion von Kindern dient, die von ihren Eltern geopfert werden. Im Kontext des Internationalen Wettbewerbs spricht ein Filmtitel wie Shame von Steve McQueen Bände; es geht darin um einen Sexbesessen. Shame wurde bestens ergänzt durch David Cronenbergs Film A Dangerous Method, einem Film, der die Anfänge der Psychoanalyse in der sadomasochistischen Liebesbeziehung einer sexuell beschämten Patientin und ihres Analytikers aufarbeitet - Psychoanalyse als Lösung und Fluch in einem. Michael Glawoggers großartiger Dokumentarfilm Whores Glory verhält sich zu dieser programmatischen Aufarbeitung einer fragwürdig erscheinenden Sexualität schließlich wie die Preisliste eines Sexshops zu einer Valentinskarte. Wer nach diesem Film und seinem verzweifelten Blick auf die vermeintlichen Liebes-Dienste der Huren noch an die Heilige Hure glaubt, sollte vielleicht doch die Dienste der Psychoanalyse in Erwägung ziehen. 

Und doch. Mitten in einem Festival, das der Aufklärung zuliebe reihenweise Illusionen zerstörte, konnte man diesen Film finden: O Le Tulafale, in englischer Übersetzung The Orator, ist das Wunder einer selten gewordenen Verbindung von Gesellschaftskritik und Glaubensstärke. In Tusi Tamaseses Spielfilmdebut, dem ersten Film überhaupt, der je auf Samoa und von einem „Einheimischen“ gedreht wurde, ist das Leid nicht größer als die Liebe. Ausgerechnet einem Zwerg, dem von allen Dorfbewohnern verachteten und verspottetem Winzling Saili, gelingt es, die Kraft des Tabus zu brechen. Dass ein Tabu etwas Sinnvolles sein kann, wenn es Natur und Mensch ausbalanciert, das Recht der Menschen und Götter auf eine Ebene stellt, hat die samoanische Dorfgemeinschaft, die Tusi Tamasese porträtiert, längst vergessen. Übrig geblieben ist nur das Wort und seine Verwandlung in einen Begriff der Ausgrenzung. Weit entfernt davon, wirklich mit ihren Ahnen und Göttern zu kommunizieren, gebrauchen die rivalisierenden Familienclans das legendäre Tabu, um sich an Außenseitern zu rächen, ihren Besitz zu vergrößern oder Vergewaltigungen zu kaschieren. 

Einzig der greise Orator, der „Redner“ des Dorfes, der nicht aus sich heraus spricht, sondern die Weissagungen und Gebote der samoanischen Götter weitergibt, übrigens nicht ohne Referenz an den eingemeindeten Jesus Christus, hemmt die Gierigen auf ihrem Weg. Denn auch hier, mitten in der vermeintlich unberührten Natur, ist der Faustsche Hunger auf mehr angekommen: mehr Wald, mehr Geld, mehr Frauen. Letztlich ist dieser Faust überall, gleichviel, wie seine Hautfarbe, Sprache und Gottesferne beschaffen ist. In dem Dorf, in dem sich eine Kirche erhebt, doch nur selten die Seele, lebt die alleinerziehende Mutter Vaaiga mit ihrer halbwüchsigen Tochter und ihrem kleinwüchsigen Mann Saili. Saili reicht nicht einmal an Vaaigas Hüfte heran, dennoch hat er die Größe, sich als ihr Ehemann auszugeben. Denn verkrüppelt oder nicht, Saili ist ein Mann und kann eine „Gefallene“ wie Vaaiga durch die Ehe retten. 

The Orator (1)


Vaaiga ist das samoanische Gretchen, das sich geweigert hat, ihr Kind zu töten. Stattdessen hat sie ihre ebenso wohlhabende wie skrupellose Familie verlassen und lebt im Schutze ihrer nur auf dem Papier bestehenden Ehe ein bescheidenes Leben. Der Film legt nahe, dass Vaaiga als junges Mädchen in ihrer Familie sexuell missbraucht wurde. Ausgesprochen wird das nie. Das falsch verstandene Tabu, das richtet, statt etwas zu richten, lastet auf Vaaiga. Bis sie dem Druck, die Schuldige zu sein, nachgibt und stirbt. Noch über ihren Tod hinaus besudeln die Schamlosen, die von Ehre reden und Macht meinen, Vaaigas Körper. Sie verschleppen die Leiche in das Haus, aus dem die Lebende geflohen ist, und schlagen den Zwerg halbtot.

The Orator (2)


Er glaube, so der Regisseur, dass es in jedem von uns einen Zwerg gäbe, gleichviel, „ob dies nun unsere Kultur, unsere Arbeit oder einen Mangel an Zuversicht“ betreffe. Doch der kleine Mann bekommt unerwartet Hilfe. Vom Orator zum Nachfolger gekürt, bekommt Saili die Insignien einer höheren Macht überreicht. Der gewaltige Stecken des Orators, eine Art samoanischer Marschallsstab, ist zweimal so lang wie der Zwerg. Die Sitte verlangt, dass der Sprecher der Götter den Stab gebieterisch aufsetzt, um sich Gehör zu verschaffen. Sailis Versuche, den Stab zu handhaben, enden damit, dass er ihn in die Erde rammen muss, um sich auf gleicher Höhe mit der verliehenen Macht zu befinden. Komik und Würde schließen sich hier nicht aus, wenn das auch heißen mag, eine in die Familiengruft gezwungene Leiche zu exhumieren und in einem Überlandbus nachhause zu bringen. Am Ende kommt wieder ein Kind zur Welt, unehelich gezeugt von Vaagias Tochter, die es nicht besser wusste, als dem Werben eines verheirateten Dorfcasanovas nachzugeben. Doch diesmal ist das Tabu bereinigt. Das Kind hat einen winzigen Opa, der es vor bösen Blicken schützen wird.

Im Kino entrückt uns der Tod immer mehr. Menschen sterben in Action-Filmen, aber es sind nur Schauspieler, die aus der Geschichte fallen. Es gibt so viele Tote im Kino, dass die Bilder des Todes inflationär geworden sind. Sie haben für uns keine Bedeutung. Ein Festival wie dieses kann die Wahrnehmung des Todes verändern. Und damit die Wahrnehmung des Lebens.