Was Liebe vermag, was Misstrauen zerbricht: Religiöse Gestalten im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes

Festivalbericht von Charles Martig, Präsident der Ökumenischen Jury

Die Ökumenische Jury in Cannes hatte eine anspruchsvolle Aufgabe. Trotz eines durchschnittlichen Jahrgangs im Wettbewerb war die Auswahl für den Preis reichhaltig: Gleich sechs bis sieben Filme entsprachen den Kriterien. Kennzeichnend war allerdings die Übermacht der sehr bekannten und altgedienten Regisseure wie Ken Loach, Alain Resnais oder Michael Haneke. Macht es Sinn, einen Regisseur auszuzeichnen, der bereits arriviert ist und zahlreiche Preise, darunter auch kirchliche, gewonnen hat? Und wie steht es mit der jüngeren Generation, die sich ebenfalls mit sozialen und religiösen Werten beschäftigt? Faktisch konzentrierte sich die Endauswahl auf zwei Filme, die einen hohen Anspruch zur Geltung bringen und ein zutiefst menschliches Drama inszenieren.

Amour oder Jagten?

Mit Amour präsentierte Michael Haneke ein äusserst dichtes Kammerspiel, das den Zerfall eines geliebten Menschen zeigt. In den Hauptrollen haben Jean-Louis Trintignant und Emanuelle Riva überzeugt. Haneke verfügt über die filmischen Mittel zur Umsetzung des anspruchsvollen Stoffs; mit einer radikalen Geste und einer überragenden Sensibilität in der Komposition. Die Einstellungen sind auf das Minimale reduziert, das Wichtigste steht im Mittelpunkt: Die Liebe zwischen zwei Menschen, die als Ehepaar durchs Leben gegangen sind. Selten hat ein Film das Leben im Angesicht des Todes so direkt und stilsicher gezeigt. Der Film stach im Wettbewerb dermassen heraus, dass auch die ökumenische Jury eine ausführliche Debatte darüber geführt hat. Doch die relativ angespannte Euthanasie-Debatte in Frankreich ist der falsche Kontext, um die christlichen Kirchen mit diesem Film zu profilieren. Zudem hat Haneke bereits mehrere ökumenische Auszeichnungen erhalten.

Still aus "Amour"

Auffallend häufig erzählten die Werke von zerrütteten Beziehungen und instabilen Verhältnissen, die in die Orientierungslosigkeit führen. Dazu gehört Thomas Vinterbergs Jagten, aber ebenso Ulrich Seidl mit Paradies: Liebe und der stilvolle rumänische Exorzismus-Film Dupa dealuri (Jenseits der Hügel) von Christian Mungiu. Vielfach bilden zerbrochene Familien den Ausgangspunkt. Bei Vinterberg ist es Lukas, der nach der Scheidung versucht, das Sorgerecht für seinen Sohn wieder zu bekommen. Genau zu diesem Zeitpunkt gerät der gutmütige Erzieher unter den Verdacht, ein Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Es handelt sich um die Tochter seines besten Freundes. Vinterberg lässt keinen Zweifel aufkommen, dass seine Hauptfigur unschuldig ist. Der Ausschluss aus der ländlichen Gemeinschaft ist deshalb umso schmerzlicher. In starkem Kontrast dazu steht die Vorbereitung auf Weihnachten, dem Fest der Liebe. Statt Versöhnung gibt es nur noch Verdacht, statt Zuneigung nur noch Hass. Und dennoch glaubt Lukas an seine Unschuld und die Wiederherstellung der Ordnung. Schliesslich werden die Vorwürfe als haltlos entlarvt, doch der schreckliche Verdacht bleibt hängen.

Jagten macht das Rennen

Die Ökumenische Jury zeichnete Vinterberg für seinen Mut aus, die andere Seite des sexuellen Missbrauchs zu beleuchten. Im Gegensatz zu seinem Dogma-Film Festen (1998), der den familiären Inzest offenlegt, hat Vinterberg hier die Seite des verletzlichen und unschuldigen Mannes eingenommen. Die Jury befand: "Die Inszenierung von Thomas Vinterberg überzeugt durch ihre Klarheit und Kraft. Der Film eröffnet eine überraschende Perspektive auf die moderne Gesellschaft, insbesondere auf das Verhältnis von Eltern und Kindern…" Mehr noch geht es um die Frage des Opfers, das nicht immer auf der Seite der Kinder zu suchen ist. Eine Theologie des Opfers könnte hier ansetzen und die Mechanismen offenlegen, die zu sozialem Ausschluss führen.

Still aus "Killing Them Softly"

Wie verheerend Gewaltstrukturen sind, die zu Ausschluss und Vereinsamung führen, inszeniert Sergei Loznitsa in V Tumane (Im Nebel), der den Preis der Internationalen Filmkritik erhielt. Seine Hauptfigur ist ein Heiliger, der im Zweiten Weltkrieg zwischen die Fronten gerät und durch die Freilassung aus einem Verhör der Wehrmachtspolizei in den sozialen Tod getrieben wird. Ihm bleibt nichts anderes übrig als der Selbstmord im Nebel. Opfer sind hier auf allen Seiten zu finden, doch am meisten erschreckt, dass selbst "gute Menschen" dem Krieg nicht entfliehen können.

Religion ist präsent

Religion wurde im Wettbewerb als auch in der Sektion "Un certain regard" auf verschiedenen Ebenen thematisiert. Les chevaux de dieu geht auf die Bombenattentate in Marokko im Jahr 2003 ein und zeigt, wie Jugendliche aus den Slums von Casablanca für den Dschihad rekrutiert werden. Christian Mungiu konzentriert seine Geschichte auf eine geschlossene, christlich-orthodoxe Gemeinschaft. Mit ihrem vormodernen Lebensstil und der Anwendung von Gewalt gegenüber einer jungen Frau gerät sie in Widerspruch zum Gesetz. Gute Absichten haben schreckliche Konsequenzen. Bei diesen Filmen wird man direkt auf die These von Olivier Roy verwiesen, dass sich Religion ohne kulturelle Verwurzelung in eine fundamentalistische Strömung verwandelt, sei sie nun christlicher, muslimischer oder jüdischer Herkunft.

Doch nicht nur in der Erzählung, sondern auch in Filmbildern ist religiöse Überhöhung sichtbar. In Frankreich ist von einem "cinéma spirituel" die Rede, das auf ein Anderes verweist. Die nachhaltigste Erfahrung dieser Art vermittelte Carlos Reygadas in Post Tenebras Lux mit seiner Eröffnungssequenz, die einen Zustand der Harmonie eines Kindes mit der Natur darstellt, wie er noch nie im Kino zu sehen war. Auch hier prallen in der Folge moderner Mittelstand und ländliche Armut aufeinander, verstört die sexuelle Begierde und die Gewalt des Menschen. Das Paradies ist verloren, doch in den Bildern schwingt immer noch ein Rest von Transzendenz mit. Der absolut hermetische und unverstandene Film hat sich in Cannes mit dem Preis für den besten Regisseur durchgesetzt.

Still aus "Post Tenebras Lux"

Hier zeigt sich ein Wesenszug von Religion, der im "Nichtverstehen" verborgen liegt. Wie bestimmte Filme in Cannes haben auch Religionen immer einen Anteil, der sich dem verstandesmässigen Zugang verweigert. Es handelt sich um ein Geheimnis, das bewahrt werden will. So ist wohl auch der metaphorische Film von Leos Carax Holy Motors zu lesen, der sich der Frage nach Identität und Illusion widmet und in neun Rendez-vous eine bildmächtige "tour de force" bietet. "Heilig" sind hier die weissen Stretchlimousinen, die als Ort der Identitätswechsel und des Transits eine ganz eigene Qualität zugewiesen bekommen. Diese ästhetische Qualität nutzt auch David Cronenberg in Cosmopolis, dessen Anti-Held in derselben Limousine abgeriegelt und eingeschlossen durch die Grossstadt fährt, dem Cyber-Kapitalismus und seinem Hedonismus huldigend.