Von Wundertüten und anderen Schätzen

Das 57. Kinder- und Jugendfilmfestival in Zlín. Von Dagmar Petrick

Amelie rennt - Gewinner des Golden Slipper in Zlín 2017
 

Am Ende strahlte er von einem Ohr zum anderen und reckte den Preis für den besten Kinderfilm in die Höhe: Tobias Wiemann erhielt für Amelie rennt den Golden Slipper und flog mit etlichen Kilos mehr im Gepäck zurück ins heimische Berlin.

Uns Dreien von der ökumenischen Jury erging es da kaum anders. Auch wir schleppten schwer an unseren Koffern, als wir nach zehn ereignisreichen Tagen das reizvoll im tschechischen Mähren gelegene Städtchen Zlín verließen. Schon zur Begrüßung waren uns die Hände reich gefüllt worden: Čestmír Vančura, Präsident des Festivals, und dessen künstlerische Leiterin Markéta Pášmová überreichten einen Bildband des tschechischen Künstlers Petr Nikl, der Plakat und Trailer des Festivals entworfen hat. Dabei blieb es nicht. Denn die schwarzen Festivaltaschen entpuppten sich als wahre Wundertüten: Aus ihnen fischten wir neben Katalog, Shampoo, Handcreme, Reiseführer und Sonnenbrille auch zwei ausladende Bände über die Geschichte der Filmstudios in Zlín, denen das Festival seine Existenz und die Gestalt seines Hauptpreises verdankt: Ein goldener Stöckelschuh, der auf der Schulter eines Mädchens ruht und an den Schuhindustriellen und Gründer der Filmstudios, Jan Antonin Bat'a, erinnert. Außerdem kramten wir eine Sammelbox DVDs hervor mit den wunderschönen Filmen Hermina Týrlovás. Ihr, der grande dame tschechoslowakischer Trickfilmkunst, ist auch der Hermína Týrlová Preis für Nachwuchsfilme gewidmet; in diesem Jahr erhielt ihn Polina Minchenok für ihren Film Cloudberry.

© Zlin Film Festival


62 Länder, darunter so seltene wie Burkina Faso und die Bahamas, waren in den verschiedenen Programmen des Festival vertreten. Länderschwerpunkte bildeten die Schweiz und – da Astrid Lindgren, Autorin zahlreicher Kinderbücher, hundertzehn Jahre alt geworden wäre – Schweden. Neben einem Wettbewerb studentischer Werke gab es einen für Animations- und Trickfilm. Im internationalen Wettbewerb standen  sechzehn Spielfilmen, unter denen wir nach jenem einen suchten, der „Blicke hinter die Leinwand“ eröffnen würde – und zwar auf ästhetisch anspruchsvolle wie künstlerisch gelungene Weise.

Wir wurden reichlich fündig, hatten aber auch zwei klare Favoriten, beide aus Indien: Half Ticket von Samit Kakkad, an den wir letztlich den Preis verliehen, und Railway Children von Prithvi Konanur, der wie dessen älterer Bruder daherkommt und eine Lobende Erwähnung erhielt. Geschätzte 125 000 Kinder laufen in Indien jährlich von Zuhause weg, und man kann allenfalls erahnen, wie schlimm es ihnen ergangen sein muss, dass sie dem Leben mit den Eltern ein Leben der Ungewissheit, auf Bahnsteigen, unter Gewalt, Drogen, sexuellem Missbrauch und Ausbeutung vorziehen. Das flackert bei Konanur zappenduster über die Leinwand. Trotzdem gelingt es dem jungen Regisseur, in Gestalt einer Frau einen Hoffnungsschimmer ins Graugrau zu mischen. Von ihr wissen wir ähnlich wie der junge Held lange nicht, ob wir ihr vertrauen dürfen, ob sie sich als rettender Engel in der Not erweist oder nicht doch noch ihr flammendes Schwert zücken und den letzten Funken Hoffnung auf ein Paradies vertreiben wird.

Allein schon für die Konsequenz, mit der Konanur im Angesicht von Bollywood solch einen visuell kargen Film mit einer an den italienischen Neorealismus erinnernden, geradezu minimalistischen Ästhetik gedreht hat, hatte Railway Children eine Ermutigung verdient.

Railway Children
 

Half Ticket, der ein erheblich jüngeres Publikum (ab acht) anspricht, erzählt dagegen bei einer ähnlichen Thematik die Geschichte zweier Brüder in den Slums von Mumbai in den universalen Farben von Musik und Poesie. Trotz Armut und harter Arbeit verlieren die beiden weder die Freude am Dasein noch ihre persönliche Würde. Das wirkt, gemessen an Konanurs schonungsloser Indienanalyse, dennoch nicht verlogen. Denn von Anfang an erzählt Samit Kakkad metaphorisch, im Stil einer Fabel, die einen engen kulturellen Rahmen überschreitet. Wer will, kann sich durchaus selbst entdecken in der Korrumpierbarkeit durch jene merkwürdigen Wünsche, die ein Medium wie das Fernsehen (oder die Werbung) unvermutet in einem zu wecken vermag, für all die Dinge, die niemand zuvor je brauchte, ja, nicht einmal kannte. Dafür steht in Kakkads Film das Verlangen der beiden Kinder nach einem Stück (für sie) exotischer Pizza: als realer Handlungsstrang, aber eben auch in übertragenem Sinne, als Symbol. Dass es sich dabei trotz aller Bemühungen als aussichtslos erweist, die Grenzen zwischen Arm und Reich zu überwinden, ist eine bittere Erfahrung, die wir den beiden Helden gern erspart hätten; es schmälert aber nicht deren Lebensmut. Am Ende lachen sie herzlich darüber hinweg, weil sie wissen, dass sie längst etwas Besseres als ein Stück Pizza haben: sich selbst, die Liebe der Mutter wie auch des Vaters (obwohl der im Gefängnis sitzt). Mag Half Ticket stellenweise auch märchenhaft wirken, so enthält der Film doch wie alle Märchen eine gehörige Portion Weisheit und Zuspruch.

Half Ticket
 

So zuversichtlich wie Half Ticket enden viele andere Filme nicht; zumal jene, die sich an eine ältere Altersgruppe richten. Eltern glänzen ohnehin meist durch ihre Abwesenheit. Das betrifft vor allem die Väter, die oft gar nicht erst auftauchen, wohingegen die Mütter verloren durch den Alltag taumeln, allenfalls Halt an kleinen Flaschen suchen und darum für die Heranwachsenden ebenfalls als Gegenüber wegfallen. In dem von der European Children’s Film Association (ECFA) Jury preisgekrönten Kinderfilm Up in the Sky „entsorgen“ die Eltern ihre Tochter jedenfalls von vornherein. Hänsel und Gretel gleich setzen sie die Kleine im finsteren Wald bei Wind und Regen aus, aber das Kind weiß sich, natürlich, zu helfen und erlebt das Abenteuer seines Lebens. Diese durchaus spaßige Reise in die Welt der Fantasie blieb jedoch fern jener Realitäten, welche wir in den restlichen Filmen zuhauf gespiegelt sahen. Die Rolle der Frau im iranischen Number Four von Mehran Malakouti etwa. Der Kampf der indigenen Mapuche in Chile gegen die Zwänge der Globalisierung in Claudia Huaiquimillas Mala Junta – Bad influence. Oder die zerstörerische Macht des Internets, bei dem ein einziger Klick ausreicht, um ein Menschenleben zu zerstören, weil eben dieses Bild hundert-, nein, tausendfach angeklickt, vervielfältigt und verbreitet nicht ungesehen und darum auch nicht ungeschehen gemacht werden kann, wie es 1:54 des Kanadiers Yan England eindrücklich darstellt.

My first Halfway des Belgiers Kevin Meul steht dem in nichts nach. Nüchtern dröselt der Film für Jugendliche auf, dass ein Schuss, der auf einen Menschen abgefeuert wird, nicht dasselbe ist wie die zahllos eingeübten Abschüsse in einem Computerspiel. Schuld, sagt Meul und er sagt es so, dass es unter die Haut fährt, ist eine Tatsache, sie verändert alles, das ganze Leben, bis an die Wurzeln. What’s done, cannot be undone, muss schon Shakespeares Lady Macbeth erkennen. Und wie ihr gelingt es auch Meuls jugendlichen Helden nicht, sich seiner Schuld zu entledigen, mag er sich die Haut unter der Dusche auch noch so blutig schrubben.

Jeden Trost versagt sich Iveta Grófovás Little Harbour, dessen junge Hauptdarstellerin Vanessa Szamuhelová den City of Zlín Award erhielt. Der Film zeigt Kinder, ist aber kein Kinderfilm, obwohl er in der Kategorie für Achtjährige lief. Diese Kinder sind von ihren Eltern aufgegeben, wenn nicht gar verraten worden, und so basteln sich die verlassenen Halbwüchsigen verzweifelt eine eigene Familie, von der sie hoffen, dass sie heil sein wird, ein sicherer Hafen, ein Junge, ein Mädchen und zwei ebenfalls ausgesetzte Säuglinge. Dass der Traum nicht gelingt oder eben bloß ein Traum bleibt, erzählt das Schlussbild, das man im Grunde nur als einen symbolischen Tod deuten kann: Die Flucht in die Fantasie als letzter Ausweg aus einer Welt, aus der die Erwachsenen längst ausgezogen sind.

Little Harbour
 

Niemand hat behauptet, erwachsen zu werden sei einfach, aber Erwachsen zu sein, das zeigten die Filme in Zlín, ist es offenbar noch weniger. Denn selbst wenn die Eltern anwesend sind, tragen sie doch schwer an ihrer Elternrolle; und wieder sind es überwiegend die Väter, denen es dabei kaum gelingt, ihr Kind so anzunehmen, wie es nun mal ist.

In Rebekah Fortunes Just Charlie (Golden Slipper für den besten Film für Jugendliche) hadert ein Vater damit, dass er fortan statt des Sohnes, auf den er stolz ist, eine Tochter lieben soll, die sich in einem männlichen Körper gefangen fühlt. Im mehrfach ausgezeichneten französischen Kinderfilm Heartstrings von Michel Boujenah - Gewinner der Kinderjury und des Publikumspreises und damit insgesamt erfolgreichster Film in Zlín - quält sich der Vater eines musikalisch hochbegabten Mädchens mit dessen fortschreitender Erblindung. Seiner Tochter, die gleichzeitig mit den Erwartungen der Gesellschaft an ihre Klasse und ihr Geschlecht jongliert, gelingt es weit besser, ihre Behinderung als Teil ihres Lebens anzunehmen. Das zeigt einmal mehr, wie stark die Kinder sind, stärker jedenfalls als ihre Eltern und all die anderen Erwachsenen drum herum. Amelie rennt, der schon erwähnte Gewinnerfilm von Tobias Wiemann, treibt das im Wortsinne auf die Spitze: Hier läuft ein Mädchen nicht nur vor seiner Behinderung und einem Leben voller Einschränkungen, sondern auch vor all den anderen Aufpassern, Besserwissern und ahnungslosen Bestimmern davon, bis auf den Gipfel des höchsten Berges, wo sie garantiert niemand vermutet. Als Wiemann dann noch eine Kuh vom Berggipfel fliegen ließ, wurde die Stimmung völlig ausgelassen.

Heartstrings
 

Gute Laune herrschte auch bei Fatih Akins Tschick, der sich – trotz alkoholkranker Mutter und abwesendem Vater (siehe oben!) – als Feel-Good-Roadmovie entpuppte und den Hauptpreis der Jugendjury sowie eine Lobende Erwähnung der Internationalen Jury davontrug. Dabei lebt der Film, in dem in Gestalt seiner beiden jungen Helden Ost und West aufeinander prallen, überwiegend vom Witz der literarischen Vorlage und fügt ihr – und wenigstens das hätte ich mir anders gewünscht - wenig Eigenes hinzu.

Alle diese Filme bringen etwas auf den Punkt, was das Besondere der Filmtage, die sich ja gezielt an Kinder und Jugendliche richten, ausmacht: sie rücken ins Bild und damit in den Blick, was in einer oftmals aufs Große, Laute und Starke gerichteten Welt eher verborgen bleibt. Allein, dass die Sicht dieser jungen Menschen, seien sie nun transgender, schwul, arm, behindert oder einfach nur jung und auf dem Weg in jene befremdlich-fremde Welt der Erwachsenen, auf der Leinwand erscheint, bedeutet mindestens, ihnen einen Platz in eben dieser Welt zuzugestehen.

Eins steht jedenfalls unumstritten fest: Die Zlíner selbst lieben ihr Festival! Man merkte es aller Orten, auch in der Nacht, wenn die Freilichtbühnen brummten oder tagsüber eine Band nach der anderen die Mikrophone weiterreichte, sich die Kinosäle am Morgen mit Schulklassen und am Nachmittag und Abend mit Publikum füllten, weshalb es wenig verwundert, dass das Festival mit weit über 125 000 verkauften Karten 2017 einen neuen Publikumsrekord verzeichnete. Wie sein Preis, der Golden Slipper, der Geschichte der Stadt entstammt, so ankert auch das Kinder- und Jugendfilmfestival fest im Herzen von Zlín und verwandelt jeden, der hier weilt, zum Mitwirkenden: Zahlreiche, den Bat’aschen Wohngebäuden nachempfundene Würfel säumten die Innenstadt und luden mit Basteltischen und vielem mehr dazu ein, die eigene Entdeckerfreude sprudeln zu lassen. Das entsprach ganz dem, was Petr Kročil, dessen Firma Kovarna Viva große Teile des Festivals fördert, ausdrückte: „This festival awakens in its visitors not only emotions, but also creativity.“