Über Grenzen hinaus

Eindrücke vom 60. Filmfestival Zlín


Nicht nur durch die Filmauswahl des Internationalen Wettbewerbs beeindruckte das wegen Corona von Juni auf September verschobene Festival in Zlín. Auch das Rahmenprogramm zeigte eine große Wertschätzung den verschiedenen Jurys gegenüber, seien es die Eröffnungsveranstaltung und die im tschechischen Fernsehen live übertragene abschließende Preisverleihung oder die diversen, von großer tschechischer Gastfreundschaft geprägten Einladungen, außerdem der Besuch des Filmmuseums in Zlín, letzterer für mich eine Reise zurück in die Kindheit zu bekannten tschechischen Animations- und Stop-Motion-Figuren.

Man hatte in Zlín das Gefühl, dass die ganze Stadt, die sonst durch ihre sehr funktionalistische Bauweise eher Nüchternheit ausstrahlt, das Festival mitlebt – vor allem auch mit vielen Angeboten und Aktivitäten für Kinder.

Die meisten der Festivalfilme wurden im städtischen Kinocenter gezeigt, manche im Kongresscenter, wo auch ein Großteil der begleitenden Veranstaltungen stattfand.

Mit dem südkoreanischen Film „The House of Us“ von Yoon Go-eun startete die Jurysichtung. Gleich in diesem ersten Film klang eine Thematik an, die noch einige andere behandelten: desolate oder sich auflösende Familienstrukturen. Kinder, die weitgehend sich selbst überlassen sind und auf verschiedene Art und Weise ihr Leben organisieren müssen. Ähnlich auch im chilenischen Film „My Hero Alexis“ (Regie: Alejandro Fernandéz Almendras), in dem außerdem, wie auch in weiteren Filmen, Sport, hier Fußball, eine große Rolle spielt.

Als Eröffnungsfilm wurde „H is for Happiness“ des Australiers John Sheedy gezeigt, ein spezieller Film, der zwei außergewöhnliche Kinder begleitet. Die Geschichte um Candice, die nicht nur ihre trauernden Eltern unterstützen will, sondern auch konsequent ihren eigenen ganz speziellen Weg geht, wird unterstrichen durch eine farbenfrohe Filmgestaltung. Eine ähnliche Außenseiterposition wie sie hat der neue Mitschüler Douglas (Darstellerpreis der Internationalen Kinderjury für Wesley Patten), mit dem sie gemeinsam wirklich fantastische Abenteuer erlebt und am Ende des Film bei einer Schulfestaufführung brilliert (Hauptpreis für Kinderfilm der Internat. Kinderjury).


Ein weiterer Film, der nicht nur thematisch herausstach, war der norwegische Beitrag „The Crossing“ von Johanne Helegeland, der die Geschichte von Gerda und ihrem Bruder Otto zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählt. Ihre zur Widerstandsbewegung zählenden Eltern werden verhaftet und die beiden Kinder zu Fluchthelfern zweier jüdischer Kinder, wobei Otto im Laufe des Film sehr glaubhaft die Wandlung vom NS-Sympathisanten zu einem hilfsbereiten Kind vollzieht. Unter Führung der resoluten Gerda fliehen sie durch den eisigen Winter, wohl auch ein Sinnbild für ihre Situation; fast kann man die Kälte spüren, mit der sie kämpfen müssen. Sie begegnen verschiedenen Gefahren, bis sie schließlich die rettende schwedische Grenze erreichen. Der Originaltitel „Flukten over grensen“ symbolisiert, was alle vier Kinder leisten müssen: sie gehen auf dem Weg über ihre Grenzen hinaus, sei es körperlich wegen der Anstrengungen, sei es im Denken, denn Greta und letztlich auch Otto übernehmen Verantwortung für das Leben der beiden jüdischen Kindern (Goldener Slipper als bester Kinderfilm).


Im Internationalen Wettbewerb für Jugendfilme nahm sich der Film „Sunburned“ von Carolina Hellsgard der aktuellen Flüchtlingsthematik an. Er besticht durch eine besondere Kameraführung und mit farblich durchkomponierten Bildern. Claire, die mit Mutter und Schwester, die beide sehr mit selbst beschäftigt sind und nur wenig Zeit für sie haben, Ferien in Spanien verbringt, freundet sich mit dem gleichaltrigen Straßenverkäufer Amran aus dem Senegal an. Claires gut gemeinte Versuche, Amran zu unterstützen, verschlechtern dessen Situation massiv. Sie muss erkennen, dass ihr Urlaub im gutorganisierten Club und die harte Alltagsrealität eines illegalen Flüchtlings nicht unterschiedlicher sein könnten, auch wenn sie beide darunter leiden, dass der jeweilige Vater nicht für sie da ist. Claire unternimmt noch einen letzten „Rettungsversuch“ für Amran, dem sie mit einem Bootsausflug nach Nordafrika die Gelegenheit verschaffen will, wieder zurückzukehren. Die traumhaften Bilder am Ende des Films lassen offen, ob es ihr gelingt.


Der spanische Film „Life Without Sara Amat“ von Lara Jou spielt zur Zeit der spanischen Diktatur und erzählt die Geschichte von Pep, der die Sommerferien im Dorf seiner Großeltern verbringt und sich dort in Sara verliebt, die eines Tages plötzlich verschwunden ist. Der ganze Ort sucht nach ihr, doch sie versteckt sich bei Pep, der nun eine Art Doppelleben voller Heimlichkeiten führen muss. Sara flieht vor den Problemen in ihrer Familie und der Enge des Dorfes, die die Kamera durch enge Häuserfluchten und die jeden Tag gleiche Sitzordnung der Alten des Dorfes auf dem Dorfplatz treffend beschreibt. Am Ende der Ferien muss Pep zurück zu seinen Eltern in die Stadt, Sara geht ihren Weg durch die engen abendlichen Dorfstraßen hinaus in eine ungewisse Welt. Als leuchtende Farbtupfer trägt sie die roten Schuhe, die Pepe in einer der unzähligen Schuhschachteln, die seine Großmutter noch aus ihrem Schuhgeschäft hatte, gefunden hat (Goldener Slipper und Internationaler Kinderjurypreis für einen Jugendfilm).

Der beeindruckende iranische Film „The Ocean Behind the Window“ von Babak Nabizadeh, der im Panorama lief, erzählt von Borhan, der mit seiner Mutter auf einer kleinen Insel ein karges Leben lebt, das er verbessern möchte. Mit einigen Freunden, einem Fahrrad, Geschäftssinn, Kreativität  und Sinn für Entertainment versucht er Touristen zu unterhalten. Der Erfolg bleibt nicht aus, doch sein unachtsam abgestelltes Fahrrad und ein noch unachtsamerer Autofahrer machen den Traum vom besseren Leben zunichte. Doch Borhan gibt nicht auf und erreicht, dass der Autofahrer seinen Fehler eingesteht und Schadensersatz leistet. Mit fröhlichen Farben und manchmal auch etwas Absurdität, wenn etwa die Schüler während des Unterrichts auf Stühlen im flachen Meer sitzen, gelingt es dem Film, trotz der bescheidenen Lebensverhältnisse der Kinder Lebensfreude und positive Zukunftshoffnung zu vermitteln.