Sozialkritische und hoffnungsvolle Töne

Bericht vom 52. Internationalen Filmfestival Karlovy Vary. Von Laura Lots
Little Crusader

Gewinner des Crystal Globe: "Little Crusader" (© Film Servis Festival Karlovy Vary)


Flucht im Fokus

  In der offiziellen Wettbewerbssektion des 52. Internationalen Filmfestivals im tschechischen Karlovy Vary präsentierte Intendant Karel Och eine starke Filmauswahl – aber keine leichte Kost. Besonders präsent war das Thema Flucht auf der Leinwand. Onur Saylaks Langfilmdebüt Daha (Türkei 2017) stellt das Geschäft mit der Hoffnung ins Zentrum. An der türkischen Mittelmeerküste verdient der brutale Ahad sein Geld als Schlepper. Sein Sohn Gaza geht ihm widerwillig zur Hand. Der Strudel aus Gewalt raubt dem intelligenten Jungen nach und nach alle Unschuld. Die Geschichte entfaltet eine Wucht, der man sich kaum entziehen kann. Auf ganz andere Weise nähert sich The Line (Slowenische Republik, Ukraine 2017) dem Thema. Mit schwarzem Humor gibt der Film Einblicke in die Welt des Familienvaters Adam, der Zigaretten und Menschen über die ukrainisch-slowenische Grenze schmuggelt. Aus den mehrheitlich bitterernsten Filmen im Wettbewerb stach dieser Film mit Elementen der Komödie wohltuend hervor. Am Ende des Festivals bekam der slowakische Regisseur Peter Bebjak den Preis für die beste Regie.
 

 
Vergangenheitsbewältigung und Neuanfang

  Im Mittelpunkt des Dramas Birds are Singing in Kigali (Polen 2017) stehen zwei Frauen, die Unfassbares erlebt haben: Die polnische Ornithologin Anna rettet 1994 in Ruanda während des Genozids Claudine, die Tochter ihres Kollegen. In Annas Heimat bekommt Claudine Asyl, doch die Vergangenheit lässt den Frauen keine Ruhe. Mit starken Bildern erzählt das Drama von Krysztof und Joanna Kos-Krauze vom Umgang mit einem schweren Trauma – und von den ersten, zarten Anzeichen des Neubeginns.
  Mit der Bewältigung der Vergangenheit und dem schwierigen Prozess der Versöhnung setzt sich auch Alen Drljevics Spielfilm Men Don’t Cry auseinander (Bosnien-Hergegowina, Slowenien, Kroatien, Deutschland 2017). 20 Jahre nach Ende des Balkankrieges treffen im Therapieprogramm einer Friedens-NGO Männer aufeinander, die im Krieg für verschiedene Seiten gekämpft haben. Der kluge Film wurde in Karlovy Vary mit dem Spezialpreis der Grand Jury und mit dem Preis der Europa-Cinema-Jury ausgezeichnet.
 
 
Sozialkritische Denkanstöße und Überraschungen
 
  Drei eindrückliche Filme im Wettbewerb schlugen sozialkritische Töne an. Corporate (Frankreich 2016) handelt von der taffen Personalmanagerin Emilie, die nach dem Selbstmord eines Angestellten in eine schwere Gewissenskrise gerät. Spannend und schonungslos seziert Regisseur Nicolas Silhol die perfiden Praktiken der Arbeitswelt, in der Menschlichkeit auf dem Altar der Optimierung geopfert wird.
  Kritische Töne schlägt auch Breaking News (Rumänien 2017) an. Auf der Jagd nach möglichst dramatischen Bildern kommt der Kameramann eines News-Senders ums Leben. Sein Kollege, der Fernsehreporter Alex, überlebt den Unfall und fühlt sich schuldig. Ausgerechnet er soll einen Videonachruf drehen und dafür die Tochter des Verstorbenen vor die Kamera bringen. Der Film geht mit der Sensationslust der Medien ins Gericht und thematisiert sensibel die Beziehung zwischen Vätern und Kindern.
  Im russischen Film Arrythmia (Russland, Finnland, Deutschland 2017) kämpft der Notarzt Oleg um das Leben seiner Patientinnen – und um seine in die Sackgasse geratene Ehe. Sein Alltag wird noch schwieriger, als an seinem Arbeitsplatz ein auf Kostensenkung getrimmtes Behandlungsprotokoll durchgesetzt werden soll. Unmittelbar zeigt der Film so auf, wie Menschen unter dem Spardruck im Gesundheitswesen leiden. Unter vielen Filmkritikerinnen und -kritikern in Karlovy Vary wurde der Film als Favorit für den Hauptpreis der Jury gehandelt. Zur grossen Überraschung ging der Crystal Globe für den besten Film aber an den tschechischen Beitrag The Little Crusader (Tschechien, Slowenien, Italien 2017). Mit poetischen und ruhigen Bilden und sparsamen Dialogen erzählt Regisseur Václav Kadrnka von der Suche eines Ritters nach seinem Sohn in den Wirren des mittelalterlichen Kreuzzugs.
 
 
Eine Hommage an die Kraft der Liebe

  Zwei Filme aus dem internationalen Wettbewerb eroberten die Herzen des Publikums im Sturm: Keep the Change (USA 2017) von Rachel Israel und The Cakemaker (Israel, Deutschland 2017) von Ofir Raul Graizer. „Keep the Change“ begleitet mit viel Herz und Empathie David und Sarah, die sich in einer Gruppe für autistische Menschen kennenlernen. Gegen alle Widerstände kämpfen die beiden für ihre Liebe und für Akzeptanz. Für ihren berührenden und charmanten Debütfilm durfte die Regisseurin den Special Price der Grand Jury und die Auszeichnung der FIPRESCI-Jury in Empfang nehmen.
  Die deutsch-israelische Ko-Produktion The Cakemaker von Ofir Raul Graizer hebt wie Keep the Change die Kraft der Liebe hervor. Der Film erzählt die Geschichte des Berliner Bäckers Thomas. Nach dem plötzlichen Tod seines israelischen Geliebten Oren reist er nach Jerusalem. Dort sucht er die Nähe von Orens Witwe Anat. Ohne zu ahnen, was sie mit dem schweigsamen Thomas verbindet, stellt sie ihn in ihrem Café an – obwohl er aus Deutschland kommt und nichts von koscherer Küche versteht. Beim gemeinsamen Backen finden Thomas und Anat zueinander. Als sensible Hommage an die Macht der Liebe, die zu Versöhnung und Heilung führt, vermochte es der Film, nicht nur die Zuschauerinnen und Zuschauer zu begeistern, sondern auch die Ökumenische Jury, die dem Film ihren Preis verlieh.