Quo vadis Cottbus: Stay East – Go West?

10. Festival des Osteuropäischen Films Cottbus 2000. Bericht von Reinhard Middel

Das diesjährige 10. Cottbuser Filmfestival hätte allen Grund gehabt zu selbstbewusster Feier des Erreichten und zu einer Vision fürs kommende Jahrzehnt. Indes, manche Begleitumstände anno 2000 stimmten eher nachdenklich, überschwenglicher Jubel übers Filmprogramm wollte auch nicht so recht aufkommen. Es war sicher ein eher schwacher Jahrgang mit kaum einer Handvoll echter Trouvaillen; bedenklich, dass dies nun ausgerechnet in einen Zeitraum fällt, in dem es festivalpolitisch doch einigen Grund gibt zur Sorge um die Zukunft dieser bislang einzigartigen Präsentationsveranstaltung des osteuropäischen Kinos in Deutschland. Zehn Jahre nach seiner Gründung erweist sich dieses behutsam entwickelte, mit schier unglaublichem Engagement betriebene und viel cinéastischem Know How gehegte ostdeutsche Festival-Eigenprodukt noch immer nicht recht in der (westlichen) Bundesrepublik angekommen. Das macht einen nicht unerheblichen Teil seines Charmes aus, unübersehbar lauern darin jetzt aber auch Gefahren.

Es gibt kein vergleichbares Festival, dass so chronisch defizitär ausgestattet ist, ohne festivaleigene Spielstätte weiterhin hemmungslos improvisieren muss: und von den Zuschussgebern in der Stadt- und Landespolitik, die in ihren Festivalreden auch diesmal wieder unentwegt von „Brückenschlag“, „Scharnierfunktion“ und „grenznahem Standortvorteil“ sprachen, waren zum Festivalende nicht einmal verbindliche Budgetzusagen fürs nächste Jahr öffentlich zu hören. Allen anderslautenden Bekundungen zum Trotz droht überdies bald Festival-Konkurrenz aus dem wohlsituierten Wiesbaden. Hier plant und inszeniert das renommierte Deutsche Filminstitut (DIF) für April 2001 nämlich die Premiere von „goEast“, einem neuen Festival des mittel- und osteuropäischen Films mit eigenem Wettbewerbsprogramm, ergänzt um begleitende Symposien, Hochschulprogramme und thematische Reihen. Süffisant sprach einst der große Bert Brecht von der belebenden Wirkung des Geldes, und dass Konkurrenz das Geschäft belebt, ist heutzutage ein neoliberaler Gassenhauer. So unbestreitbar löblich und begrüßenswert, zumal im Westen, jedes neue Forum, jedes weitere Schaufenster für mittel- und osteuropäische Kinematografien ist, so sehr muss man doch schlicht daran zweifeln, ob sich überhaupt jedes Jahr genügend geeignete Filmproduktionen für zwei ähnlich ausgerichtete Wettbewerbsprogramme finden lassen, einmal ganz abgesehen vom Hauen und Stechen um Erstaufführungen. Wenn für die nahe Zukunft irgendetwas Sinn macht, dann eine Festival-Kooperation, eine Vernetzung zwischen Cottbus und Wiesbaden, auf dass sich im Interesse des krisengebeutelten osteuropäischen Films allfällige Synergieeffekte einstellen mögen!

Mit Blick auf den diesjährigen Wettbewerbsjahrgang fiel ohnehin auf, dass viele der Beiträge bereits den Weg durch die einschlägigen mittel- und osteuropäischen Festivals, vereinzelt aber eben auch schon über Cannes, München und Venedig genommen haben. Solche Programmierung von preisgekrönten, nicht mehr ganz taufrischen Highlights und Trouvaillen aus Wettbewerbs- und Programmsektionen anderer Festivals vermochte das Publikum vor Ort zu begeistern. Nicht jedoch goutierte dies in gleichem Maße das angereiste Fachpublikum, und es erleichterte auch nicht die Arbeit der einzelnen Jurys. Gewiss war es ein Gewinn, im eigenen Land bereits erfolgreiche Filme wie Musíme si pomohát (Wir müssen zusammenhalten) von dem bei uns so gut wie unbekannten Jan Hrebejk ins Programm zu nehmen, weil diese tschechische Tragikomödie in i9hrer unnachahmlichen Balance aus Selbstironie, Melancholie und Trauer, in eben Schwejkschem Tonfall es schafft, das prekäre Thema Schuld(igwerden) und Anpassung in den 30er und 40er Jahren zu bewältigen (Preis der Internationalen Filmkritik – FIPRESCI). Auch der zweite, ebenfalls festivalerprobte tschechische Beitrag Ene Bene (Ene Meine), eine immer wieder punktgenau treffende Satire und Farce aufs erste freie Wählen in Tschechien von Alice Nellis, wusste zu überzeugen und unterstrich erneut die Qualitätsstandards dieser vitalen Kinematografie (Förderpreis). Wenn am Ende bei Publikums- und Jurypreisvergaben drei, vier Filme die Aufmerksamkeit auf sich konzentrierten, dann kann man nur hoffen, dass es ihnen mit Hilfe der Cottbuser Auszeichnungen auch gelingen wird, den Weg in unsere Kinos zu finden. Derjenige, der wirklich Neues entdecken wollte, war noch mehr als sonst auf den Regionalen Fokus verwiesen, der sich mit den inkommensurablen, für uns hierzulande in der Tat fremdartigen Kinematografien der zentralasiatischen Länder Kirgistan, Turkmenistan und Usbekistan seit ihrer staatlichen Unabhängigkeit beschäftigte.

Stay East – Go West? Bei näherem Hinsehen markierte das auch eine zwar keineswegs neue, inzwischen jedoch viel deutlicher wahrnehmbare Bewegung in der ästhetischen und dramaturgischen Signatur. Bis weit über die „Tauwetter“-Periode und Wendezeit hinaus konnten ein ganz bestimmer production code und darauf fußende Filmsprachen des mittel- und osteuropäischen Kinos noch um einiges authentischer, insgesamt vielleicht auch homogener in Erscheinung treten. Daraus resultierten Zuschreibungen wie z.B. der immer wieder genannte metaphysisch-spirituelle Atem, die Linie des apokalyptisch bis karnevalesk Absurden namentlich im russischen und im GUS-Kino, aber auch in den vergleichsweise bekannteren Kinematografien der Balkanländer, der magische Realismus und die burlesken Schwejkiaden, der transsylvanische Horror und die ostspezifischen Spielarten einer Visualisierung von Zerfalls- und (Bürger-)Kriegstristesse etc. Solche bislang sicher geglaubten Erkennungszeichen, immer auch Qualitätsmerkmale des osteuropäischen Kinos, begegneten einem im diesjährigen Cottbuser Programm, wenn überhaupt, in stark entgrenzter Form, in der teilweise überraschenden Art eines Genremix’ bis hin zu mehr oder weniger gut gelungenen Adaptionen von dramaturgischen Elementen des Hollywoodkinos.

Der jugoslawische Mehanizam (Mechanismus) von Djordje Milosavljevic ist so ein Film, in dem sich mit der schier unentrinnbaren Emanation von Gewalt, einer visuell sehr eigensinnigen, metaphorischen Überhöhung von Violenz zunächst ein beachtlicher Spannungsbogen aufbaut; dann aber, gleichermaßen losgelöst vom (sub-)kulturellen underground des jugoslawischen Kinos wie vom Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse, verselbständigen sich Ästhetik und Dramaturgie der Gewalt im Stil von Oliver Stones Natural Born Killers. Rosszfiúk (Bad Guys) von Tamás Sas aus Ungarn greift das in postsozialistischen Ländern ohne ausreichende demokratisch-zivilgesellschaftliche Standards besonders brisante Thema mafiöser, quasi-faschistischer Machtergreifung in einer ungarischen Kleinstadt auf. Der Regisseur tut das mit den Mitteln eines hart geschnittenen, nach der Körper- und Rap-Ästhetik der jugendlichen Delinquenten rhythmisierten Knast- und „Bambule“-Films, der die Genres von Gangstermovie und Politthriller allzu holzschnittartig vermengt; bar jeder Reflexionskraft muss er aufgrund des Desinteresses für die Verstrickungen und Geschichte(n) seiner Protagonisten fast zwangsläufig der Faszination reiner Oberflächen-Präsenz erliegen.

Ganz anders der zu Recht mit dem Hauptpreis des Festival ausgezeichnete, in Deutschland produzierte Film des gebürtigen Georgiers Dito Tsintsadze, Lost Killers. In der Tradition des grotesk-absurden georgischen Kinos eines Otar Iosseliani, aber auch mit Anleihen beim Melodram à la Fassbinder, so stilsicher wie bizarr halb als Gangsterkomödie, halb als Milieufarce inszeniert an dem surreal illuminierten Schauplatz Mannheim, bringt uns der Regisseur in einem brooklynesk erscheinenden melting pot diverse loser-Typen mit viel augenzwinkerndem Ernst nahe. Liebe ist kälter als der Tod: Noch in den abgründigsten und beklemmendsten Szenen von Prostitution, Gewalt und Erniedrigung strahlt aus diesem so seltsam melancholisch-heiteren Film immer wieder die unbezwingbare Kraft der conditio humana. Lost Killers: Das sind hier, im denkbar schärfsten Kontrast zu natural born killers à la Stone, irgendwie verloren und verkorkst wirkende, dem Gewaltzusammenhang wenigstens temporär abhanden kommende Taugenichtse, in der Mehrzahl auch vor Spielfreude nur so sprühende natural born actors.

Der berührendste und anrührendste, ebenfalls zu Recht der am meisten mit Preisen und Empfehlungen hervorgehobene Film (Förderpreis der Jury, Preis der Filmklubföderation FICC/IFFS, Preis der Ökumenischen Jury und nicht zuletzt der Publikumspreis) war der u.a. von ZDF/Kleines Fernsehspiel und DFFB koproduzierte England! von Achim von Borris. Eindringlich wie in keinem anderen Film dieses Festival-Jahrgangs visualisiert sich hier die seit dem Trauma Tschernobyl am Ende des katastrophalen 20. Jahrhunderts noch einmal um eine neue Dimension erweiterte „Schicksals- und Hoffnungsgemeinschaft“ (Eric Hobsbawm) zwischen Ost und West. Ganz subtil, in der Narration nie plakativ schreibt die Tschernobyl-Erfahrung sich ein in die utopisch gerichtete Bewegung des Protagonisten aus der im Film nur angedeuteten Geschichte seiner ukrainischen Herkunft über die Zwischenstation Berlin in die „große Freiheit“, für die hier das unabgegoltene Freundschaftsversprechen „England!“ als Chiffre steht: Überall ist es besser, wo wir nicht sind. Sinnbildhaft erzählt dieser leise und doch vernehmbare, dieser todtraurige und doch so lebensbejahende Film seine straight story als Utopie einer perennierenden Freundschaft, einer Versöhnung mit dem Leben im Angesicht des Todes.