Jiři Menzels filmischer Tagtraum „Heimat, süße Heimat". Von Karsten Visarius

FRANKFURT A. M. Er sei ein wenig zurückgeblieben, sagen die Dorfbewohner von ihm. Sie sagen es mit jener besorgten Gutmütigkeit, die bekundet, daß sie ihm jedes Verständnis einzuräumen bereit sind. Ein bedauernswerter Dorftrottel, mit dem nur der oberflächliche Blick ihn verwechseln könnte, ist Otik (Janos Ban) dennoch nicht. Er ist ein mit Segelohren geflügelter Unschuldsengel, der die Gabe besitzt, den Gang der Dinge in Unordnung zu bringen. Der rundliche Pavek (Marian Labuda), Chauffeur eines Lastwagens und geplagter Familienvater, hat den Elternlosen in seine Obhut genommen, als Beifahrer. Manche Geduldsprobe hat der empfindliche Dicke zu bestehen, ganz seinem aufbrausenden Temperament entgegen. Dies Kontrastpaar von Kugel und Kegel gehört unwiderruflich zusammen; und wenn es zu zerbrechen droht, gerät die komisch-beschauliche Welt von Jiři Menzels Film „Heimat, süße Heimat" ernsthaft in Gefahr, in ein herzzerreißendes Drama zu münden. 

Das Unglück kommt ins Rollen, als Pavek den ausgebreiteten Ohrmuscheln seines Partners einen Kopfhörer überstülpt, um ihnen womöglich eine anliegende Form zu geben. Diese weitere Sinnesberaubung muß Otiks Fähigkeit, gleichsam ohne eigenes Zutun Verwirrung zu stiften, erst recht in Schwung bringen. Die künstliche Taubheit macht ihn für seine Umgebung blind. Selig starrt er in den Himmel, und Erde regnet auf ihn herab - hat er sich doch ausgerechnet auf eines Lastwagen Ladefläche ausgestreckt, die zur Aufnahme einer Fuhre Sand bestimmt ist. Dem Schrecken folgt die nächste Erschütterung auf dem Fuße; voller Eifer dirigiert Otik das Gefährt gegen einen frischgemauerten Torpfosten, der unter dem Anprall prompt zu Bruch geht. Und mit ihm Paveks Toleranzbereitschaft. Nach der Ernte, so erklärt er aufgebracht, müsse sich Otik einen anderen Betreuer suchen. Unwiderruflich. 

Der Zuschauer muß die Hoffnung auf Versöhnung freilich nicht aufgeben. Denn es macht den ganzen schwebenden Charme von Menzels Film aus, daß er es nicht mit dem Unwiderruflichen hält – dem stumpfen: So-ist-es –, sondern mit dem Unwahrscheinlichen. Poesie hat seinen filmischen Dorf-Kosmos ins Menschliche verzaubert, er ist nicht ganz von dieser Welt. Er habe, sagt Menzel, nicht zeigen wollen, wie das Leben ist, sondern wie es sein könnte. Ein bißchen Märchenton nimmt uns gefangen, ein bißchen Schwindel verschönt das Wirkliche und läßt uns sanft in eine bodenlose Heiterkeit gleiten. 

Solche Menschenfreundlichkeit hat den Blick des Menschenbeobachters Menzel zum Glück nicht getrübt. Wenn er uns erheitern will, so will er uns doch nicht zum Narren halten. Otik und Pavek führen als Haupt- und Glanzstücke eine Galerie von Typen an, deren Schrullen, Kümmernisse und stillen Triumphe der Film zu einem Kranz pointierter Episoden verknüpft. Auch ein Fremder findet Eingang in den Kreis der Dorfbewohner, ein reisender Maler, von Drehbuchautor Zdenek Sverak selbst gespielt. Er malt nur das Alte, den krummen Zaun, den Holzschuppen, das wacklige Fachwerkhaus, während er, zum Befremden der Ansässigen, den frischgestrichenen Neubauten den Rücken kehrt. Solcher Liebe zum Schwindenden und seiner Heimat-Verheißung ist Menzels Film zutiefst verwandt. Die Idylle ist befristet, ja sie ist so idyllisch schon gar nicht mehr. Es ist eine bedrohte Zuflucht, auf der der Schatten der Melancholie ruht. 

Ein Schatten, den uns die Komik des Films wieder leicht macht. Anders als der Slapstick, der das Geschehen beschleunigt bis ins Aberwitzige, ist Menzels Humor eine Kunst des bedächtigen Blicks. Er steuert so gemächlich auf seine Pointen zu, daß uns das Lachen schon lange in der Kehle kitzelt, ehe sie tatsächlich fallen - gleichsam ein Witz mit Suspense. Umso weniger kann er sich erlauben, mit vordergründigen Effekten zu schummeln. Auch diese handwerkliche Sorgfalt, die präzise Choreographie des Szenenaufbaus und -ablaufs, hat etwas wohltuend Altmodisches. Für die Kinominuten von „Heimat, süße Heimat" fühlen wir uns, gestillt und beglückt, mit der Welt im Einklang.

Aus. Frankfurter Rundschau, 30. Mai 1987