Locarno 1995

Bericht von Heike Kühn
Wo ist das Haus meines Freundes (Abbas Kiarostami)

Wo ist das Haus meines Freundes (Abbas Kiarostami)


Im 48. Jahr seines Bestehens, im vierten Jahr der Ära Marco Müller, die sich bislang nicht allein durch die Vielsprachigkeit des Festivaldirektors, sondern auch durch die Vielfalt filmästhetischer Sprach- und Kindheitsmuster auszeichnete, läuft das Festival von Locarno Gefahr, einen Ruf zu gewinnen. Ein weiterer Wettbewerb wie der diesjährige, für den die mildtätig und barmherzig waltende Auswahlkommission seliggesprochen werden könnte, und Locarno droht die Anerkennung als Festival grandioser Retrospektiven. Die Retrospektive des letzten Jahres, kenntnisreich und liebevoll Frank Tashlin gewidmet, lief einem Wettbewerb den Rang ab, der immerhin einen Preisträger wie Zhou Xiaowens >Ermo< aufzuweisen hatte. In diesem Jahr war die Retrospektive, die mit dem 55-jährigen Iraner Abbas Kiarostami zum ersten Mal einem zeitgenössischen Regisseur galt, in jeder Hinsicht konkurrenzlos.

Die Internationale Jury tat ihre Pflicht und prämierte, wie nicht anders zu erwarten, die politisch korrektesten Filme des Wettbewerbs. Die Vergabe des Goldenen Leoparden an >RAI< von Thomas Gilou mag verstehen, wer das Kino als Plattform für Sozialarbeit schätzt. Angesiedelt in einem Vorort von Paris, in dem die größtenteils arbeitslosen Kinder maghrebinischer Einwanderer sich zwischen den Traditionen ihrer Eltern und einer wahlweise über- oder untertriebenen Anpassung an die verhaßten und beneideten Franzosen zerreiben, verläppert sich der Film in der Abrechnung des Halb-, Viertel- und Achtelscheiterns seiner liebes- und drogenkranken, politik- oder lebensmüden Protagonisten. Obschon Gilous Schauspieler, allen voran Samy Naceri in der Rolle eines dealenden und buchstäblich durchknallenden Möchtegern-Pistoleros, das Leben in der Betonwüste zwischen Rai und Rap eindrucksvoll vermitteln, kommt ihnen ein Drehbuch in die Quere, daß von Ehrgeiz zerfressen ist wie eine Mutter, die ihr Kind gewinnbringender zu verheiraten sucht: Die aufoktroierte Größe des angestrengt zugespitzten Dramas spricht dem Leben der kleinen Leute eher Hohn.

Einen Silbernen Leoparden war es der Internationalen Jury wert, daß Mario Van Peebles in >Panther<, einem Film über die mörderische Diskriminierung der Black Panther Party, der von den Erinnerungen des ehemaligen Aktivisten Melvin Van Peebles zehrt, das historische Dokumentarmaterial der Aufmärsche und niedergeschlagenen Demonstrationen hemmungsloser und distanzloser den eigenen Bildern unterfüttert, als es ein so geschmähter und vermeintlich lediglich unterhaltsamer Film wie >Forrest Gump< je gewagt hätte. Der Bronzene Leopard ging mit >Das blaue Kopftuch< der Iranerin Rakhshan Bani-Etemad an einen Frauen-Film, der engagiert und filmästhetisch unbedeutsam ist: Daß ein Fabrikbesitzer seine dünkelhaften Kinder, seinen Ruf und seinen Reichtum aufgibt, um mit einer Arbeiterin zusammenzuleben, kommt im Iran des unausgesprochenen politischen und religiösen Kastenwesens aber wenigstens inhaltlich einer Revolution gleich.

Wenn es sich selbst Regisseure, Schauspieler und Produzenten, aus denen Internationale Jurien sich zusammensetzen, zur Gewohnheit machen, Filme nicht mehr filmisch, soll heißen, als Einheit einer inhaltlich und formal originären Vision zu betrachten, kann die Preisvergabe der Ökumenischen Jury kaum verwundern. Mit >Sept En Attente< von Francoise Etchegaray prämierte die Jury, die laut Satzung einen Film wählen soll, der für spirituelle, menschliche oder soziale Zusammenhänge sensibilisiert, ein ebenso form- wie haltloses Gerede über verlorene Lieben, ein dennoch behaltenes Kind und die Schwierigkeit, sich auf einer Party letzte Wahrheiten einzugestehen, während eine Katze auf dem Buffet sitzt: Der Film, der die Christen der Welt fürs Kino gewinnen soll, läuft und läuft wie eine Nase vor der Erfindung des Taschentuchs.

Preisen wir uns indessen glücklich, daß nichts Unpassenderes prämiert worden ist, >Der Nebelläufer< Jörg Helblings etwa, in dem die pubertär genossene Einsamkeit eines Schweizer Langstreckenschweigers sich schließlich gottes-und vaterlandslästerlich im Gestammel eines 17-Jährigen entlädt, der sich nach dem einmal geprobten Aufstand mit der Zukunfstplanung seiner Mutter zufriedengibt. In der Schweiz, der der Regisseur so unbeholfen gegenübersteht wie sein autobiographisches alter ego der übermächtigen Mutter, klingt die Jugendrevolte mit einem Job in einer Schweizer Bank aus.

In England, das mit Benjamin Ross' fulminanten Filmdebut den erstaunlichsten und den unterschätztesten Wettbewerbsbeitrag lieferte, zieht es der 14-jährige Graham Young vor, sich der Quälgeister seiner einsamen Jugend auf angemessene Weise zu entledigen. Die Stiefmutter, die ihn angiftet, ist das erste Opfer, die erste Eintragung in dem >Young Poisoner's Handbook<, das Ross nach Aufzeichnungen eines authentischen Gift- und Massenmörders skizziert hat. Das Thallium, mit dem Graham, besessen von chemischen, unzugänglich für menschliche Beziehungen, auf eine Gesellschaft reagiert, die mit der Sentimentalität der in die sechziger Jahre geretteten Fifties und dem kruden Gemisch ihrer Anstandsregeln über ein außerordentlich wirksames Narkotikum verfügt, findet im Film eine subtile Entsprechung: Schleichender als Grahams Gift ist die Vergiftung der Seelen durch die sangbaren Lügen, die Radio und Fernsehstationen ihren Zuhörern ins Ohr träufeln wie weiland Hamlets Onkel den Saft des Bilsenkrauts ins Ohr eines schlafend vergifteten Königs.

Die Gesellschaft, die Graham des Mordes überführt, partizipiert auf ihre Weise am Kreislauf der Gifte - sie stellt den vermeintlichen Irren mit Psychopharmaka still. Dieser filmische Extrakt, den Ross unverkennbar aus den abgründigen Familienidyllen eines Terence Davies und den Todes-Künsten Greenawayscher Provenienz destiliert hat, hätte allemal mehr Zuspruch verdient: In der kalten Analyse dieses Debuts blitzt allemal mehr Mitleid und Menschenkenntnis auf als in der kuhwarmen Menschlichkeit der prämierten Problemfilme.

Während der Wettbewerb, der fatal an den Zusammenhalt versprengter, zu einer Beerdigung kurzfristig zusammentreffender Familienmitglieder erinnerte, Zweifel an der Zukunft des Kinos aufkommen ließ, wiederfuhr den Kiarostami-Fans das Glück der Wiederaufführung, der Wiederauferstehung im Geist einer ans Kino glaubenden Gemeinde. Mit der Entdeckung der weder als Dokument noch als Schausspiel funktionierenden Filme >Wo ist das Haus meines Freundes<, >Und das Leben geht weiter<, >Quer durch den Olivenhain< hat Locarno seit 1989 den Ruhm eines Filmemachers verfestigt, bei dem die komplizierte Osmose von Fiktion und Wirklichkeit, das Diffundieren erfundener und gefundener Bilder sich so überwältigend "einfach" in die Entstehung und die Reflektion einer zweiten, einer filmischen Natur fügt, wie ein Baum in die Photosynthese. Kiarostamis erwachsene Laiendarsteller, die bald ihre aufgetragene, bald ihre unverstellte Persönlichkeit in ein Spiel von primärer und sekundärer, von originärer und künstlich forcierter Wahrheit einfließen lassen, das sich in der Verdichtung der Fiktion an ihren konkreten Sorgen, an den Verheerungen eines Erdbebens, an den Erschütterungen einer unerwiderten Liebe orientiert, haben ihre Vorgänger in den kleinen Jungen, die Kiarostamis frühe Filme bevölkern - um nicht zu sagen: bespielen.

Ausgerechnet das Kanun, das iranische "Zentrum für die intellektuelle Förderung von Kindern und jungen Erwachsenen" bot dem gelernten Graphiker und Werbefilmer Kiarostami seit 197O den Spielraum für erste Filme. Gewöhnt daran, mit der Werbung für Pfannen in Sekunden auf den Punkt kommen zu müssen, drehte das malende und photgraphierende Multialent Kürzest- und Kurzfilme, die beweisen, daß ein Lehr-Auftrag nicht langweilig sein muß. Ob Kiarostami schlicht die Zeit stoppt, die es braucht, um Schulkinder in Zweierreihen oder in wilder Drangsal einen Bus erklimmen zu lassen (>Mit oder ohne Ordnung<, 1981), ob er die ebenso zeit- wie atemberaubenden Lügen aufzeichnet, mit denen Teheraner Autofahrer eine Verkehrsperre zu umgehen suchen (>Der Bürger<, 1983), ob er anhand eines versehentlich beschädigten Schulheftes, das unter sich prügelnden oder sich einigenden Freunden buchstäblich zur Zerreißprobe wird (>Zwei Lösungen für ein Problem< (1975) - nie war Didaktik komischer. Und nie ist sie menschlicher als in den Filmen, in denen die Kinder vom Ordnungswahn einer militärisch in Reih und Glied gepressten Gesellschaft erzählen, die in der Abgrenzung des Einzelnen von seinem Nachbarn nicht den Freiraum des Anderen gewahrt sehen will, sondern die Erstarrung aller in den langen Schlangen des Gehorsam.