Junge Menschen auf Identitätssuche

Festivalbericht Locarno 2002. Von Charles Martig

Im Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals von Locarno war der Trend zur schwierigen Identitätssuche von jungen Menschen auffallend. Die ökumenische Jury hat den französischen Beitrag „La cage“ ausgezeichnet. Der Spielfilm von Alain Raoust porträtiert die 25-jährige Mörderin Anne Verrier, die nach der Haftentlassung ihren Weg zur Versöhnung mit den Opfern sucht. Eine spezielle Erwähnung erhielt der griechische Film „Diskoli apocheritismi: o babas mou“ (Schwerer Abschied: Mein Vater) der Regisseurin Penny Panayotopoulou, der die Auseinandersetzung eines Kindes mit dem Tod seines Vaters zeigt. Kontrovers war die Vergabe des goldenen Leoparden an den deutschen Wettbewerbsbeitrag „Das Verlangen“, der sich auf klischierte Weise mit den Schattenseiten eines Pastorenehepaars auseinandersetzt.

In zahlreichen Filmen des internationalen Wettbewerbs hat sich gezeigt, wie schwierig die Suche nach eigenen Werten und Zukunftsperspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen geworden ist. „Meisje“ (Dorothée Van den Berghe, Belgien 2002), eine ausbalancierte und präzise Erzählung, stellt die erotische Neuorientierung von drei Frauen aus drei Generationen dar. In „Tan de repente“ (Diego Lerman, Argentinien 2002) begegnet die junge Verkäuferin Marcia, die vom Land in die Stadt gezogen ist, zwei lesbischen Frauen, die ihre sexuelle Orientierung und ihr Selbstbild in Frage stellen. Der amerikanische Regisseur Gus van Sant entführt die Zuschauer mit grosser stilistischer Konsequenz in die Einöde einer Wüstenlandschaft. „Gerry“ (USA 2001) heisst seine radikale Studie über den Gang zweier junger Männer in die Leere des Death Valley, eine Extrembelastung ihrer Freundschaft, die sich letztendlich um Tod und Liebe dreht. Der iranische Film „Man taraneh, panzdah sal daram“ (Ich bin Taraneh, 15 Jahre alt) (Rassul Sadr-Ameli, Iran 2002) greift die schutzlose Stellung von jungen Frauen im Iran auf und zeigt exemplarisch, wie eine Ehefrau von ihrem Mann verlassen wird und sich als alleinerziehende Mutter durchschlagen muss.

Auch in „La cage“ (Alain Raoust, F 2002) ist die Protagonistin eine junge Frau: Anne Verrier wird nach siebenjähriger Haft aus der Strafanstalt entlassen. Zu Beginn des Films trägt ihr eine Beamtin in formalistischer Sprache ihre Freilassung vor. Wir erfahren, dass Anne wegen Totschlag und Raub verurteilt wurde und dank guter Führung frühzeitig entlassen wird. Sie steht vor der schwierigen Aufgabe, sich wieder ins Arbeitsleben zu integrieren. Als dies jedoch unbefriedigend bleibt, sucht sie nach ihrem eigenen Weg, nach Versöhnung mit dem Vater des Opfers und reist in die Berge, um ihn zu treffen. Sein Hass und seine Ablehnung sind sein Käfig, in dem er sich selbst eingeschlossen hat und in dem kein Schritt zur Versöhnung möglich scheint. Doch Anne gibt nicht auf und geht weiter in die Berge hinein, über den Pass hinaus, in das Land jenseits des Verbrechens. Mit stilistischer Konsequenz führt Alain Raoust bedächtig an die entscheidende Begegnung heran und zeigt, dass Versöhnung zuweilen ein Fremdwort bleiben muss, wenn die Hoffnung darauf einseitig bleibt. Der Film wurde neben der ökumenischen Jury auch von der internationalen Filmjournalisten-Organisation FIPRESCI ausgezeichnet.


„Das Verlangen“: Kontroverser Preisträger

Mit dem deutschen Beitrag von Iain Dilthey hat die Internationale Jury einen goldenen Leoparden gekürt, der als fragwürdiger Entscheid in die Annalen des Festivals eingehen wird. „Das Verlangen“ (D 2002) stellt das Leben der Pastorengattin Lena in den Mittelpunkt, die sich dem rigorosen Druck der herrschenden Moral unterworfen hat. Sie wird von ihrem autoritären Mann abschätzig behandelt, die Essens-Szenen am Tisch bestehen aus Ablehnung und gegenseitigem Erdulden, die ehelichen Pflichten im Bett erfüllt Lena mit resignierter Hingabe. Von der Schwester ihres Mannes, die sie pflegt, erhält sie nur Verachtung und sogar schmerzhafte Schläge. Lena verweigert die Pflege und gerät dadurch in Konflikt mit ihrem Mann. Gleichzeitig entwickelt sich eine Affäre mit dem Automechaniker des Dorfes, die für sie einen folgenreichen Ausbruch aus der übermächtigen Pflichtmoral bedeutet. Als eine Serie von Frauenmorden das Dorf in Aufruhr bringt und sich der Mechaniker als Mörder erweist, deckt Lena diesen aus verzweifelter Liebe und wird dadurch selbst zur Mörderin an einem Polizisten.

Dilthey verwendet für seinen Film Erzählmuster, die auf Klischees aufgebaut sind: das langweilige Dorf, die strenge Sittenmoral, der autoritäre Pastor als Inbegriff der Doppelmoral, der Serienmord als Verhängnis für die Sehnsucht der Hauptfigur. Die Narration ist geschlossen und führt zwingend in die Tragik. Gegenstände und wiederholte Handlungen sind bedeutungsschwer aufgeladen; ein symbolischer Existenzialismus prägt die Perspektive des Regisseurs. Während des ganzen Films fragt sich der Betrachter: Was um Himmels willen liegt dem Autor an dieser Geschichte? Welche Bezüge zu gesellschaftlichen Realitäten möchte er herstellen? Die durchgehende Stilisierung mag die internationale Jury dazu bewogen haben, „Das Verlangen“ besonders zu ehren. Dennoch ist hier eine verblüffende Ungleichzeitigkeit festzustellen: Der Film setzt sich mit Relikten der religiösen Sozialisation auseinander, die dreissig bis vierzig Jahre zurückliegen, und formt diese in ein Extrem hinein. Zu den aktuellen Verhältnissen in der evangelischen Kirche Deutschlands sind keine Bezüge festzustellen. „Das Verlangen“ ist ein prätentiöser Film zur falschen Zeit, den man besser dem gnädigen Schweigen der Festivalarchive anheim gegeben hätte.


Bezaubernde indische Filme

Der überzeugendste Film auf der Piazza Grande war die hinreissende Komödie von Gurinder Chadha. Die Regisseurin mit indischer Abstammung erzählt die Fussballgeschichte „Bend it like Beckham“ (Indien 2002) im Milieu der Punjabi-Familien Londons. Jess ist ein Mädchen, das sich, entgegen den traditionellen Vorstellungen der Familie, mehr für Frauenfussball als für die indische Küche und die Moralvorstellungen ihrer Sikh-Religion interessiert. Heimlich trainiert sie mit ihrer englischen Freundin Jules und überwindet mit viel Beharrlichkeit und Fantasie die zahlreichen Hindernisse auf ihrem Weg zur Fussballkarriere. „Bend it like Beckham“ baut auf intelligente Situationskomik und frechen Wortwitz, um die kulturellen Unterschiede und Konflikte zwischen der indischen Tradition und ihrer modernen Umwelt darzustellen. Mit verblüffenden Dialogen und meisterhaft choreographierten Handlungssequenzen nimmt die Regisseurin die konventionellen Erwartungen bezüglich Weiblichkeit, Erfolg und Familie aufs Korn.

Im Wettbewerb zeigte Aparna Sen eine aus religiöser und politischer Sicht spannende Momentaufnahme der blutigen Konflikte zwischen fundamentalistischen Hindus und Muslims auf dem indischen Subkontinent. In „Mr. and Mrs. Iyer“ (Indien 2002) erzählt sie von der vorsichtigen Annäherung zwischen einer jungen Frau mit Kleinkind, die aus einer tamilischen Brahmanenfamilie stammt, und einem muslimischen Fotografen, der durch Kleidung und Sprache eine moderne Urbanität vertritt. Als auf einer Busreise plötzlich Unruhen ausbrechen und die Reisegruppe von hinduistischen Fundamentalisten bedroht wird, setzt die junge Frau ihr Kind dem muslimischen Sitznachbarn auf den Schoss und behauptet, dass sie mit ihm unter dem Namen Iyer verheiratet sei. Damit rettet sie ihm das Leben. Die romantische Geschichte eines fiktiven Ehepaars inmitten von Überfällen und Verfolgungsjagden erzeugt eine besondere dramaturgische Spannung. Die Regisseurin appelliert an die Toleranz zwischen den Religionsgemeinschaften, verweigert jedoch glücklicherweise das romantische happy end. Das fiktive Paar trennt sich am Schluss und hält damit – bei aller gegenseitigen Sympathie – die schmerzhafte Distanz aufrecht.

Auch in der bezaubernden Retrospektive „Indian Summer“ war die Vielseitigkeit des weltweit grössten Filmproduzenten zu entdecken. Mit über 600 Filmen jährlich stellt der indische Subkontinent in verschiedenen Sprachen und Zentren wie Bombay („Bollywood“), Calcutta und Kerala mehr Filme her, als die im Westen vorherrschende Industrie Hollywoods. Vom Curry-Western über das Melodrama und das Musicalepos im Stile Bollywoods bis zu den sozialkritischen Filmen von Mrinal Sen („Aamar Bhuvan“, 2002) war hier die ganze Bandbreite des indischen Films in einer erlesenen Selektion zu sehen. Unter anderem war auch die bekannte indische Autorin Arundhati Roy in Locarno präsent. Sie war als geistreiche Autorin und Darstellerin („In wich Annie gives it those ones“, Pradip Krishen, 1988) zu entdecken. Aparna Sen glänzte mit dem kritischen Blick auf eine gescheiterte Mittelstandsehe im Film „Yugant“ (1995).
Dieser „Indian Summer“ gab dem Publikum, was es in diesem Jahr vom Wetter nicht bekam: Wärme und reichlich Nahrung für die Sinne.