Gewaltige Themen und grosser Besucherandrang – ein selektiver Blick auf das 64. Internationale Filmfestival in Locarno

Ein Bericht von Christine Stark, Filmbeauftragte der reformierten Medien

Kino kann verspielt sein, unterhaltend, schockierend, tiefernst oder immer auch wieder prophetisch wach. Wer zu Festivalbeginn noch Zeit für die Tagespresse hatte, rieb sich bei manchem Film die Augen. Da hat man eben beim Frühstück gelesen, wie sich Polizeikräfte, die an Ausschaffungen beteiligt sind, von übergeordneten Behörden allein gelassen fühlen. Wenig später sieht man in einer Vorführung Vol spécial, eine Dokumentation über das Genfer Ausschaffungszentrum Frambois. Der Westschweizer Filmemacher Fernand Melgar zeigt sich in seinem neuen Film nach La Forteresse (Goldener Leopard in der Sektion "Cinéaste du Présent" 2008) einmal mehr politisch engagiert. Das Publikum, unter ihm ehemalige Exponenten des Schweizer Evangelischen Kirchenbundes (SEK) oder auch Mitarbeitende, des Schweizer Evangelischen Hilfswerkes (HEKS) gab Standing Ovations. Der Film wurde als Favorit für einen Leoparden gehandelt, ging aber diesbezüglich leer aus. Irritierend gegenteilig äusserte sich der Präsident der Internationalen Jury, der portugiesische Produzent Paolo Branco, abschätzig und warf ihm – zur Irritation der versammelten Presse – gar billige faschistische Untertöne vor. Damit hat er sich im Ton vergriffen, seine Kritik ist haltlos. So war auch ganz anders die Ökumenische Jury (zusammen mit der Jugendjury) am Ende des Festivals davon überzeugt, mit Vol spécial den besten Wettbewerbsbeitrag gesehen zu haben, und verlieh dem Film am vergangenen Samstag ihren mit 20‘000 CHF dotierten Preis, der gemeinsam von den reformierten und katholischen Kirchen der Schweiz getragen wird und an den Verleih des Films in der Schweiz gebunden ist. In ihrer Begründung heisst es: "Sowohl die Angestellten als auch die Insassen verhalten sich menschlich unter unmenschlichen Umständen, und so kann sie der Zuseher und die Zuseherin als Individuen erfahren, die ihre eigene Familie, ihre Religion und ihre je eigene Würde haben." Der Film startet am 29. September in den Deutschschweizer Kinos.

Lobende Erwähnungen der Ökumenischen Jury
Mit lobenden Erwähnungen würdigte die Ökumenische Jury den niederländischen Film Onder ons von Marco van Geffen sowie die argentinisch-schweizerische Koproduktion Abrir puertas y ventanas von Milagros Mumenthaler, die auch den Goldenen Leoparden errang. Die Jury setzte sich zusammen aus Joachim Valentin (Deutschland), Sanne E. Grunnet (Dänemark), Daria Lepori (Schweiz), Ieva Pitruka (Lettland), Konstantin Terzis (Griechenland) und Christian Wessely (Österreich)iktion.

Von der Realität überrollte Fiktion
Von der plötzlichen Aktualität überrollt zeigte sich der israelische Regisseur Nadav Lapid mit seinem politischen Thriller Hashoter (Policeman). Ursprünglich als Fictionfilm gedreht, erscheint er vor den Zeitungsberichten über Massenproteste und soziale Unruhen in Israel in ganz anderem Licht. Er handelt von einer Gruppe Elitesoldaten, die bei Sondereinsätzen arabische Terroristen liquidieren. Plötzlich werden sie damit konfrontiert, dass Terror auch von innen heraus kommen kann. Sie sollen radikalisierte junge Israelis exekutieren, die einzig Gewalt als Ausweg aus dem enormen wirtschaftlichen Ungleichgewicht in der israelischen Gesellschaft sehen. Dieser erschütternde, jedoch auch recht konventionelle Thriller über eine von Gewalt durchtränkte Gesellschaft wurde seitens des Festivals mit dem "Preis der Jury" honoriert. Überhaupt problematisierten zahlreiche Filme die Gewaltthematik und zeigten, dass sich Locarno – bei allem Neuen, das Olivier Père als künstlerischer Leiter auch in seinem zweiten Jahr brachte – treu bleibt und zeigt, was Filmschaffende weltweit an politisch Brisantem bewegt.

Cowboys und Aliens auf der Piazza Grande
Wer von der expliziten, oft aber auch subtilen Gewalt der Wettbewerbsfilme erschöpft auf der Piazza Grande einen unterhaltsamen Abend herbei sehnte, wurde am Samstagabend zunächst vom Wetter, dann aber auch vom Programm durchgeschüttelt. Zwei Weltstars, die je auf ihre Weise als Ikonen maskuliner Schönheit und Stärke gelten, kämpften sich durch den Film Cowboys and Aliens. Mit Harrison Ford, dem Retter intergalaktischer Welten und Prinzessinnen der 80er Jahre, und Daniel Craig, dem Prügel-James Bond des 21sten Jahrhunderts, wurde die regengebeutelte Piazza zusätzlich mit hollywoodschem Testosteron geflutet. Der Film zeigt seinem Titel entsprechend Cowboys und Aliens, die miteinander kämpfen, bis sich schliesslich die einzige aktive Frauenfigur für die Menschheit opfert. Die überirdische Schönheit von Olivia Wild verkörpert ebenfalls ein Alien, wenn auch das gute, das Menschengestalt annahm, um die Welt zu retten. Diese besteht ganz brav im Westerngenre aus guten und weniger guten Cowboys und einigen streng edlen Indianern. Eine Kalorienbombe von Film, die mit aberwitzigen Kampfszenen unterhält, jedoch sinnfrei und uninspiriert bleibt. Aber natürlich gehört das Spektakel auf der Piazza Grande ebenfalls zu diesem ausgesprochenen Publikumsfestival, das in diesem Jahr mit dem grossen Andrang äusserst zufrieden sein konnte.