Ein spannendes Wettbewerbsprogramm

Bericht zum 60. Internationalen Film Festival von Cannes 2007. Von Marisa Villareale
Auf der anderen Seite

Der Preisträger der Ökumenischen Jury: "Auf der anderen Seite"

Thierry Frémaux, der Programmdirektor des Filmfestivals in Cannes, konnte zur 60. Ausgabe auch in diesem Jahr mit einem spannenden und einem der vielversprechendsten aller Wettbewerbsprogramme aufwarten. Die Liste der Filmemacher, die um die Goldene Palme kämpften, liest sich wie das „who is who?“ des zeitgenössischen Arthouse-Kinos: Wong Kar-wai, Joel & Ethan Coen, David Fincher, Emir Kusturica, Kim Ki-duk, Quentin Tarantino, Alexander Sokurov, Gus van Sant. Zählt man dann noch die neusten Werke jener Regisseure hinzu, die außerhalb der Konkurrenz präsentiert wurden (Denys Arcand, Michael Moore, Steven Soderbergh, Michael Winterbottom, Claude Lelouch, Ermanno Olmi, Volker Schlöndorff), lässt das Line-Up auch die Herzen anspruchsvollster Cineasten höher schlagen.

Keine Frage: Cannes ist und bleibt der Welt bedeutendstes Filmfestival, auch angesichts der immer stärkeren Konkurrenz aus Berlin, Venedig, Toronto oder der jüngsten, mit viel Geld aus der Taufe gehobenen Events in Rom und Dubai. Und trotz der Tatsache, dass im Vorfeld hoch gehandelte Filme von Francis Ford Coppola („Youth Without Youth“ mit Tim Roth), Todd Haynes („I’m Not There“ mit Cate Blanchett), Paul Thomas Anderson („There will be blood“ mit Daniel Day Lewis), Michael Haneke (“Funny Games” mit Naomi Watts), David Cronenberg („Eastern Promises“ mit Viggo Mortensen) und Ang Lee („Lust / Caution“ mit Tony Leung) gar nicht erst im Wettbewerb landeten, bzw. anderen Festivals, wo die Konkurrenz vielleicht nicht so stark sein mag (Coppola zieht es beispielsweise nach Rom), den Vorzug gaben.

Ein Grund für den andauernden Erfolg der Macher an der Croisette ist, dass sie ganz gezielt Regisseure an sich binden, in dem sie ihnen fast einen Wettbewerbstammplatz offerieren und auch sonst hofieren mit Juryämtern und Sonderbeiträgen. Nehmen wir z.B. den Hong-Kong-Regisseur Wong Kar-wai. Erstmals 1997 nach Cannes eingeladen, erhielt er für „Happy Together“ prompt den Preis für die „Beste Regie“. Entdeckt worden ist er für Europa freilich von einem kleineren Festival in Locarno, das ihn bereits 1994 mit „Chungking Express“ in den Wettbewerb um den Goldenen Leoparden einlud. Danach war Wongs Weg international gemacht und  selbstredend war er nach der ersten Einladung nach Cannes auch mit all seinen folgenden Spielfilmen für die Goldene Palme nominiert, durfte im vergangenen Jahr die Jury anführen, und selbst das offizielle Festivalplakat schmückte ein leicht abgewandeltes Szenenbild aus „In the mood for love“.

In diesem Jahr kam Wong Kar-wai mit seiner ersten in englischer Sprache und in den USA gedrehten Produktion „My Blueberry Nights“ also bereits zum fünften Mal nach Cannes. In den Hauptrollen prominent besetzt mit Sängerin Norah Jones und Jude Law, sind es aber vor allem die Nebenrollen – allen voran der großartig agierende David Strathairn als von Glück und Ehefrau verlassener Cop –, die unter der einfühlsam poetischen Regie des Asiaten in diesem Roadmovie zu überzeugen wissen. In seiner filmischen Erzählweise knüpft Wong wieder an seine stärksten Filme an, selbst Kameramann Darius Khondji (Delicatessen, Sieben) schien angehalten, den Stil von Wongs Stammkameramann Christopher Doyle zu kopieren, und dennoch konnte es sich „My blueberry nights“, das so herrlich melancholisch beginnt und so viel von verhinderten Liebesbeziehungen und unfreiwilligen Distanzen zu erzählen weiß, nicht verkneifen, den Zuschauer am Schluss mit einer Art Happy End zu entlassen. So etwas hatten Wongs Filme zuvor niemals nötig.

Christopher Doyle indes stand diesmal nicht in Diensten Wong Kar-wais, sondern widmete sich ganz „Paranoid Park“, der mittlerweile 12. Langfilmproduktion des Amerikaners Gus Van Sant, der sich seit seinem Gewinn für „Elephant“ 2003 zum erlauchten Kreis von „Palme d’Or“-dekorierten Regisseuren zählen darf und der in diesem Jahr zu Recht mit dem Sonderpreis zum 60. Jubiläum ausgezeichnet wurde. Wieder einmal erzählt Van Sant von jugendlichen amerikanischen Außenseitern, deren Nöten, Ängsten, kaputten Familien und Isolationen. In „Paranoid Park“ steht ein Skater im Mittelpunkt der Geschichte, der auf der Flucht versehentlich schuldig wird am Tod eines Wachmannes. Ungemein eindringlich bleibt dem Zuschauer die Szene im Gedächtnis, wenn der Junge nach der Tat zu Hause unter der Dusche steht, halb verstört versucht, Spuren und Schuldgefühle abzuwaschen, und ein Sounddesign, wie es seines gleichen sucht, die unterschiedlichsten Geräusche der vergangenen Stunden, gepaart mit dem fließenden Wasser vermengt. 

Doch mit seinen drei Festivalteilnahmen reicht Van Sant noch lange nicht an einen  der Rekordhalter vom Schlage eines Emir Kusturica heran, einen der wenigen doppelten Palmen-Sieger (neben ihm nur noch die Gebrüder Dardenne, Bille August, Shohei Imamura und Francis Ford Coppola), der bereits bei seinem ersten Jahr in Cannes 1985 auf Anhieb den Hauptpreis gewann für „Papa ist auf Dienstreise“. 1989 wurde ihm für „Time Of The Gypsies“ der Preis für die „Beste Regie“ zuerkannt. Auch sechs Jahre danach kam die Jury 1995 bei seiner dritten Teilnahme am Wettbewerb nicht umhin, seinen Film „Underground“ erneut mit der höchsten Auszeichnung zu versehen. Erst 2004 ging er mit „Das Leben ist ein Wunder“ erstmals fast leer aus, wenn man einmal vom Preis des Französischen Bildungsministers absieht. Mit „Promise me this“ war Kusturica nun zum fünften Mal im Kampf um die Palme vertreten. Das Ergebnis hingegen war mehr als enttäuschend. Seine Geschichte um einen einfältigen und dennoch aufgeweckten Bauernjungen, der vom Großvater in die Stadt geschickt wird, um die einzige Kuh zu verkaufen, verkommt unter Kusturicas allzu eigenwillig derben und nur selten phantasievollen Regie zu einer Brutalo-Klamotte, ganz so, als ob Robert Rodriguez ein Remake von „Pippi Langstrumpf“ gedreht hätte.

Auch Joel & Ethan Coen sind in Cannes seit ihrem Sieg 1991 mit „Barton Fink“ längst keine Unbekannten mehr. 1994 kehrten sie mit „Hudsucker – der große Sprung“ an die Croisette zurück und konnten 1996 für „Fargo“ erneut einen Preis für die „Beste Regie“ in Empfang nehmen. Auch wenn sie 2000 mit „O brother, where art thou?“ leer ausgingen, so wurde ihnen im Jahr darauf erneut der Preis für die „Beste Regie“ für „The man who wasn’t there“ zuerkannt. Zum letzten Mal waren sie 2004 mit den eher enttäuschenden „Ladykillers“ im Wettbewerb vertreten. Heuer reisten sie mit einer ebenso lakonischen wie bissigen Gangster-Ballade namens „No Country for Old Men“ an, der Fangemeinde und Kritiker nicht selten in gute, alte „Blood Simple“-Tage zurück versetzte. Javier Bardem verkörpert in dieser Adaption eines Romans von Cormac McCarthy („All die schönen Pferde“) einen eiskalten Killer, der mit ebenso wenig Humor wie Gnade, dafür aber sehr einfallsreich mit Gashochdruckflasche seine Blutspur durch Texas und New Mexico zieht.


Eine Blutspur, fast so lang und breit wie der rote Teppich vor dem Festivalpalais zieht auch Quentin Tarantinos neuer Film „Death Proof“. In den USA gemeinsam mit Robert Rodriguez’ „Planet Terror“ als Double Feature unter dem Titel „Grindhouse“ in die Kinos gebracht und gründlich gefloppt, verkaufte Produzent Harvey Weinstein Tarantino, den Liebling der Croisette, in Cannes nun in einer Langversion als abendfüllenden Wettbewerbsfilm. Und seine Rechnung ging auf. Die Liebeserklärung an die Trashfilme der 60er und 70er Jahre, in der Tarantino seiner Stuntfrau Zoe Bell (Kill Bill) eine Hauptrolle auf den durchtrainierten Leib schrieb, ist atemberaubendes Adrenalinkino, das zwar durch absichtlich hineinproduzierte Remineszenz-Kratzer und Schnittlücken auf billig getrimmt ist, bei näherem Hinsehen aber teuerste Actionszenen offenbart und dank längerer (manche sagen zu lang) gewohnt lässiger Dialogsequenzen auch immer wieder Zeit zum Durchatmen gewährt. In Venedig darf dann im Herbst Rodriguez ran.

Jenseits dieses effekthascherischen Gewaltkinos bewegte sich in diesem Jahr ausgerechnet David Fincher, der in „Sieben“ und „Fight Club“ mit Brutalität nicht gerade geizte. In „Zodiac“ jedoch gibt Fincher einem wohltuend unmanierierten, stark auf Authentizität fokussierten Stil den Vorzug. Der Film scheint mehr an Wahrheit als an Suspense interessiert und erzeugt gerade deshalb und wegen seiner akribischen, atmosphärisch dichten Detailtreue in seinen besten Momenten mehr Spannung als alle anderen Thriller der letzten zwanzig Jahre zusammen. „Zodiac“ erzählt die Geschichte des gleichnamigen Serienkillers aus San Francisco, der Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre sein Unwesen trieb und mit Polizei und Presse ein grausames Katz-und-Maus-Spiel trieb. Und weil er auch im realen Leben trotz viel versprechender Spuren nie gefasst, bzw. dem Verdächtigen die Morde nie nachgewiesen werden konnten, gelten die Fälle bis heute als unaufgeklärt. Und so versagt auch Fincher seinem eifrigen Detective Mark Ruffalo und dem noch engagierter nachspürenden Zeitungskarikaturisten Jake Gyllenhaal konsequent jeglichen Fahndungserfolg. Ein ebenso mutiger wie realistischer Schluss, denn auch im wahren Leben, werden die Bösen nicht immer gefasst, wie es uns das Hollywoodkino sonst so gerne glauben machen möchte.

Dass es auch ein starkes Erzähl-Kino jenseits von Amerika gibt, das mit fünf Filmen im Wettbewerb ungewohnt stark vertreten war, bewies eine französische Produktion, deren Regisseur – die Franzosen mögen diesen pedantischen Hinweis verzeihen - Amerikaner ist. Julian Schnabel gelingt in seiner Bestseller-Adaption „Schmetterling und Taucherglocke“ eine anrührende und intime Meditation über den Lebenskampf eines bis auf den Lidschlussreflex gelähmten Mannes. Einst war der von Mathieu Amalric genial porträtierte Schwerstbehinderte ein ebenso erfolgreicher wie oberflächlicher Redakteur einer Modezeitschrift, ein plötzlicher Schlaganfall wirft ihn auf seine bloße Existenz zurück, lässt ihn erstmals erahnen, was Leben wirklich heißt. Mit oftmals subjektiver Kamera wird die Behinderung dermaßen eindringlich eingefangen, dass man besonders als älterer Zuschauer nach Betrachtung des Films zwangsläufig gezwungen ist, über das eigene irgendwann bevorstehende Dahinscheiden zu reflektieren. Leicht hätte dieser Film angesichts des enorm tragischen Schicksals seines Helden in seicht kitschige Fahrwasser abdriften können, Schnabel gelingt jedoch das Kunststück, aus diesem Film, eine noch akuratere Beschreibung des Martyriums abzuliefern, als es zuvor die Autobiografie vermochte. Das war der Jury zu Recht den Preis für die Beste Regie wert.

Warum die von Stephen Frears angeführte Jurorenriege jedoch Perlen wie Alexander Sokurovs „Alexandra“ oder Ulrich Seidls „Import/Export“ unprämiert ließ und dafür lieber sperrig asiatische Kost wie „The Mourning Forest“ mit dem großen Preis der Jury bedachte, bleibt rätselhaft.


Die Goldene Palme für einen rumänischen Film

Ähnlich wie bereits im Bereich der Musik, wo seit Jahren osteuropäische Länder Song-Contests dominieren, zeichnete sich auch in Cannes der Vormarsch jener einst kommunistisch regierten Länder ab. Mit dem rumänischen Beitrag „4 Monate, 3Wochen und 2Tage“ von Cristian Mungiu gewann vielleicht nicht der beste Film die Goldene Palme, aber mit Sicherheit der nachhaltigste Film. Seinem Abtreibungsdrama, das Mungiu im Rumänien der zu Ende gehenden Ceaucescu-Ära ansiedelt, stellt er eine starke Heldin voran, die ihre ungewollt schwangere Freundin bei der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage bedingungslos unterstützt. In einem äußerst nüchternen Stil beschreibt „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage“ den steinigen Weg der beiden Studentinnen hin zur illegalen Abortion, die ein mehr als schmieriger Arzt unter der Prämisse vornehmen wird, mit beiden Mädchen zuvor Sex zu haben, den der Regisseur freilich dezent ausblendet, ebenso wie er den Abgang des Fötus selbst nicht zeigt, sondern nur, wie ihn später die Freundin auf dem Badezimmerboden findet. Dann verharrt die Kamera schmerzlich lange auf diesem nie da gewesenen Spielfilm-Anblick, und man ahnt als Zuschauer, dass es dieses Bild sein wird, das vielen Juroren das Blut dermaßen stark in den Adern gefrieren lassen wird, dass sie gar nicht anders können, als ihre Preise über diesen Film auszuschütten. Befreit man sich aber von diesem emotionalen Würgegriff und legt das Augenmerk auf die Aussage des Films, der keinerlei Anklage gegen die Mädchen erhebt, sondern nur gegen die Männer, die sie in solch missliche Lagen bringen, bzw. daraus Profit schlagen, so steuert der Film am Ende auf eine billig eindimensionale Moral zu, die auch seiner hervorragend agierenden Hauptdarstellerin nicht gerecht wird. Concorde wird den von der Kritik fast einhellig gefeierten Film, dem auch der Fipresci-Award zuerkannt wurde, noch in diesem Jahr in die deutschen Kinos bringen.


Un Certain Regard

Auch im Nebenwettbewerb „Un Certain Regard“ trug ein rumänischer Film mit dem Titel „California Dreamin’“ die höchstmögliche Auszeichnung davon, die sein Regisseur Cristian Nemescu allerdings nicht mehr persönlich entgegen nehmen konnte, da er kurz nach Abschluss der Dreharbeiten bei einem Autounfall ums Leben kam. An seiner Stelle nahmen seine hervorragenden Darsteller, allen voran ein bestens aufgelegter Armand Assante, den Preis entgegen. Der Film, der einzig von einem sehr guten Drehbuch, und weniger von der filmischen Umsetzung getragen ist, erzählt die Geschichte eines US-Nato-Transports per Zug durch Rumänien in Richtung Jugoslawien, während des Bosnienkrieges. In einem kleinen Dorf besteht der rumänische Zollbeamte auf Papiere, die die Amerikaner nicht vorweisen können, weil sie eigentlich von ganz oben das O.K. haben. Da die US Truppen nun länger in diesem kleinen Örtchen aufgehalten werden, kann der Film wunderbar die Annährung der beiden Kulturen schildern.

Und auch sonst hatten die Filme der „Certain Regard“-Reihe einiges zu bieten, was auch dem Hauptwettbewerb gut zu Gesicht gestanden hätte, der unter Totalausfällen mit Filmen wie Bela Tarrs unsäglich zäher „L’art-pour-l’art“-Adaption des Simenon-Romans „The Man From London“, Catherine Breillats gänzlich missratenen Historienbeziehungsdrama „Une vieille maîtresse“, James Grays konventionellem „We own the night“, das jetzt schon nach einer direct-to-DVD-Verwertung schreit und dem isrealischen Wackelkamera-Beitrag „Tehilim“ von Raphael Nadjari doch sehr zu leiden hatte. Dass gerade in Israel derzeit aber auch überzeugend intensives Kino entsteht, zeigte nicht nur der diesjährige Regiepreisgewinner der Berlinale „Beaufort“, sondern auch „The Band’s Visit“ von Elan Kolirin, der in Cannes zu Recht mit mehreren Preisen bedacht wurde. Seinem Ruf als großes Füllhorn cineastischer Leckerbissen wurde „Un Certain Regard“ mit weiteren starken Beiträgen gerecht, so z.B. dem italienischen Bruder-Drama „Mio fratello è figlio unico“ von Daniele Luchetti, Harmony Korines „Mister Lonely“, einer wunderbaren Elegie auf Imitatoren berühmter Persönlichkeiten auf dem Weg zu sich selbst oder dem deutschen Beitrag „Am Ende kommen Touristen“, in dem Robert Thalheim („Netto“) - von eigenen Erlebnissen als Zivildienstleistender in Polen inspiriert - die Geschichte eines jungen Deutschen im heutigen Auschwitz erzählt, der dort den einzigen noch lebenden Zeitzeugen des KZ-Lagers zu betreuen hat.


Preis der Oekumenischen Jury

Die ökumenische Jury zeichnete in diesem Jahr den deutsch-türkischen Beitrag „Auf der anderen Seite“ von Fatih Akin (Gegen die Wand) als besten Film des Wettbewerbs aus. Überglücklich nahm der Regisseur am Sonnabend aus den Händen von Jury-Präsidentin Anne-Beatrice Schwab den Preis entgegen. Umringt von einer beachtlichen Anzahl von Journalisten gab Akin seiner Hoffnung Ausdruck, dass auch andere Menschen das in seinem Film erkennen mögen, was die ökumenische Jury darin gesehen hat. „Auf der anderen Seite“ erzählt von zwei Todesfällen, die auf jene schicksalhafte Weise miteinander verbunden sind, die man bereits aus Filmen wie „21 Gramm“ und „Babel“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzales Inarritu kennt, dem Fatih Akin auf der Pressekonferenz dann auch ausreichend für Inspiration dankte. Sein Film handelt vom Leben in verschiedenen Welten: Deutschland und der Türkei, von der Suche nach Zugehörigkeit, sowohl national als auch emotional. Eine Türkin kommt in Deutschland ums Leben, versehentlich erschlagen von ihrem türkischen Lebensgefährten. Eine junge Deutsche verliert ihr Leben in der Türkei, versehentlich erschossen von einem türkischen Jungen. Um jegliche überzogene Dramatik herauszunehmen aus seinem Film, und den ruhigen Erzählcharakter zu unterstützen, gibt Akin das Schicksal der beiden Frauen in Kapitelüberschriften bereits preis, bevor er die Figuren überhaupt einführt. Der Zuschauer weiß um die Chronik der angekündigten Tode, und doch mag man sie nicht glauben, weil man die Figuren gerade erst lieb gewonnen hat. Unterstützt von einer bewundernswert ökonomischen Erzählweise verstrickt „Auf der anderen Seite“ die Schicksale von sechs Menschen zwischen Deutschland und der Türkei und zeigt Wege der Annäherung zwischen den unterschiedlichen Kulturen auf. Der Film erhielt von der Grand Jury außerdem den Preis für das beste Drehbuch.


Die Show auf den roten Teppich

Aber Cannes wäre nicht Cannes wenn es nicht außerhalb von Wettbewerbsfilmen auch für gehörig Prominenz auf dem roten Teppich sorgen würde, sei es nun dass ohne filmischen Anlass alternde Aktricen wie Sharon Stone oder Andie MacDowell Couture und Schmuck teurer Designer ausführen oder dass Stars wie Leonardo Di Caprio, George Clooney, Brad Pitt und Angelina Jolie ihre Filme außerhalb des Wettbewerbs präsentieren und abends die Spendentöpfe diverser Wohltätigkeitsveranstaltungen zum überlaufen bringen (ein Kuss von Clooney kostete 235.000 Dollar, mit denen man gleichzeitig weltmännisch gegen die humanitäre Katastrophe in Dafur protestieren konnte – praktisch und zynisch zugleich). Aber Glamour und Charity alleine reichen Cannes schon längst nicht mehr.


Und Szenenapplaus für Michael Moore

Spätestens seit dem Sieg von „Fahrenheit 9/11“ hat Cannes auch sein Herz für politische Streitkultur entdeckt, und wer verkörpert sie besser als der mittlerweile selbst im linken Lager sehr zwiespältig angesehene Michael Moore, der an der Croisette seine neueste Dokumentation „Sicko“ vorstellen durfte. Und Moore wäre nicht Moore, wenn er seinen Film für sich alleine sprechen lassen würde. Diktierte er 2004 der allzu leichtgläubigen Presse in die Mikrofone, sein Anti-Bush-Film sei von einem US-Distributionsverbot bedroht, weil er Disney zu brisant sei (was sich später als unwahr heraus stellte, die Jury aber hernach veranlasste ihm als kleinen Verleihanschub die Goldene Palme zu überreichen), so hatte er diesmal die Geschichte von der vor US-Zollbehörden in Sicherheit gebrachten Filmkopie im Gepäck, gepaart mit der Verlautbarung, er müsse für diesen Film möglicherweise sogar mit einer Haftstrafe rechnen. Selbstdarsteller Moore mag bisweilen eine bizarre Mischung aus Messias und Märtyrer abgeben, aber niemand spielt die Medienklaviatur so virtuos wie er.

In seiner neuesten „Dokumentation“ stellt Moore das US-Gesundheitssystem an den Pranger, ein sehr zynisches System privater Kassen, das Menschen, die dringend ärztlicher Behandlung bedürfen, diese Hilfe ab und an verweigert, um Profite zu steigern. Seine dramaturgische Trumpfkarte spielt Moore gegen Ende des Films aus, als er die von ihm interviewten Versicherungsopfer mitnimmt zu einem Bootsausflug nach Guantanamo Bay, dem einzigen Flecken US-Territory, wo man seiner Meinung nach ausgezeichnete medizinische Behandlung erfährt. Archivmaterial zeigt die medizinisch aufs Feinste ausgestatteten Behandlungsräume für unter Terrorverdacht stehende Häftlinge, und Moore schürt Empörung darüber, dass freiwilligen 9/11-Rettungshelfern nicht die gleiche gute medizinische Behandlung zuteil wird, wie den muslimischen Extremisten. Fast wünscht man sich man könnte Michael Winterbottoms („The Road to Guantanamo“) Gesicht sehen, wenn ihm diese Stelle im Film vorgespielt wird, in der Moore mit seinem Häufchen Elenden vor der Küste Guantanamos schippert und durchs Megaphon kreischt, „Why can’t our heroes get the same medication as these evildoers“? Ein Unrecht gegen ein anderes ausspielen und dafür Szenenapplaus ernten, das bringt nur ein Michael Moore fertig!

Freilich findet man in Guantanamo Bay weder Zutritt noch Gehör, weshalb sich die Moore'schen Boat-People auf den Weg ins nahe gelegene Kuba machen, jenen Staat, der von den USA immer noch mit einem Handelsembargo belegt ist und auch sonst nach Kräften verteufelt wird. Eins der weltbesten Gesundheitssysteme freut sich geradezu darauf, die armen US-Helden medizinisch überfürsorglich zu behandeln. Was der Film natürlich wieder ausblendet, ist, dass er dafür eine Drehgenehmigung benötigte, die er wohl nur bekommen hat, weil sich die kubanischen Behörden die Hände vor Vorfreude rieben, als sie hörten, was Michael Moore zeigen möchte. Selbst eine Tochter Castros ließ es sich nicht nehmen, für diese Pro-Kuba-Propaganda vor die Kamera zu treten. Viva la revolucion!

In diesem Jahr feierte Cannes sein sechzigstes Jubiläum. Mit 33 jeweils dreiminütigen Kurzfilmen unter dem Titel „Chacun son cinéma“, die von einer nie dagewesenen Ansammlung cineastischer Weltelite für diese Gelegenheit gedreht wurden (darunter sehenswerte Perlen wie die von Takeshi Kitano, Roman Polanski, Alejandro Gonzalez Inarritu, Wim Wenders, Nanni Moretti und Lars von Trier) wurde diesem Geburtstag ein denkwürdiger Rahmen verpasst. Die Filme sind in Frankreich bereits auf einer DVD erhältlich und waren in Cannes schon am Erscheinungstag restlos ausverkauft.