Bericht vom 70. Filmfestival in Cannes


Für einen 70. Geburtstag blieb die Qualität der im Wettbewerb von Cannes gezeigten Filme häufig hinter den Erwartungen zurück. Filmpolitisch schlug die Diskussion, ob von Netflix produzierte Filme auf ein Filmfestival gehören oder nicht, hohe Wellen. Durch eine Veröffentlichung auf Netflix wird nämlich die Kinoauswertung solcher Filme blockiert. In der Netflix-Produktion The Meyerowitz Stories von Noah Baumbach spielt Dustin Hoffmann den exzentrischen und nur halberfolgreichen New Yorker Bildhauer Harold Meyerowitz, der zunehmend auf die Hilfe seiner aus verschiedenen Ehen stammenden erwachsenen Kinder angewiesen ist. Sie alle buhlen auf ganz unterschiedliche Weise um die Zuneigung dieses kranken Vaters, der sich nur für seine Kunst und seinen Ruhm interessiert. Aus diesem Spannungsverhältnis schafft Baumbach eine New York-Komödie in der Tradition von Woody Allen und Wes Anderson, ohne jedoch seine Figuren der Lächerlichkeit preis zu geben.

 

Der Wettbewerb begann mit Andrej Zvjagincevs Film Neljubov – Faute d’amour, der von der Trennung von Boris und Ženya erzählt. Beide leben in neuen Beziehungen, wenn sie sich begegnen, machen sie sich Vorwürfe und streiten. Beide zeigen in dieser Situation keinerlei Interessen und Verantwortung für den 12 jährigen Sohn Aljoša. Bis er verschwindet. Beeindruckend wie Zvjagincev die soziale Realität in Russland in Szene setzt. Große emotionale Kälte zwischen den beiden Eheleuten, Zuneigung und Fürsorge für die schwangere Freundin oder den aufmerksamen neuen Freund. Eine Gruppe von Freiwilligen hilft bei der Suche nach dem Jungen. Die Schusseinstellung zeigt Ženja auf dem Laufband im Luxusappartement  ihres neuen Partners. Sie trägt eine Trainingsjacke mit der Aufschrift RUSSIA und beugt sich erschöpft nach vorn. Es schneit.

 

Das Thema „Familie“ in den verschiedensten Konstellationen hat in den Filmen des Wettbewerbs eine große Rolle gespielt. Allerdings wurden die meisten Familien völlig dysfunktional gezeigt. Die Erwachsenen sind nicht in der Lage, ihre Verantwortung gegenüber den Kindern wahrzunehmen, oder eines der Kinder wird sogar für den Familienfrieden geopfert. So in Film von Yorgos Lanthimos The Killing of a Sacred Deer einer modernen Adaption des antiken Iphigenie-Stoffes von Euripides. Der Herzchirurg Steven Murphy (Colin Farrell) und die Augenärztin Anna (Nicole Kidman) führen mit ihren Kindern Kim (Raffey Cassidy) und Bob (Sunny Suljic) auf den ersten Blick ein Familienleben wie im Bilderbuch. Es herrscht Harmonie, das Haus ist riesig, und Geld ist auch mehr als ausreichend vorhanden. Aber mit dem Auftauchen des 16-jährigen Martin (Barry Keoghan) geht es für die Murphys steil bergab. Steven hat sich aus Schuldgefühlen heraus mit dem Teenager angefreundet, nachdem Martins Vater bei einem Routineeingriff auf seinem Operationstisch verstorben ist. Ein brillant inszenierter schwarzer Film, der den Zuschauer von Anfang an in einem tiefen Unbehagen gefangen hält und ihm kaum Erholungspausen gönnt.

 

Auch bei Michael Hanekes Happy End steht ein Kind, die zehnjähriges Eve, im Mittelpunkt einer bourgeoisen französischen Familie, die in Calais in ohne jedes Mitgefühl für den jeweils anderen in scheinbar völliger Isolation von der gesellschaftlichen Realität lebt. Diese scheint auf durch die algerische Familie, deren Mitglieder als Hausdiener auf dem Grundstück leben. Die Flüchtlinge, die im Camp von Calais leben, kommen erst gegen Ende ins Bild, wenn die Familie den Geburtstag des Patriarchen der Familie in einem Luxusrestaurant feiert. Ein bitterer Film, in dem Haneke die Widersprüche der westlichen Gesellschaft überdeutlich vor Augen führt.

 

Das politisch aktuelleThema „Geflüchtete“ spielte nur in einem Film eine zentrale Rolle, in Jupiter’s Moon von Kornél Mundruczó. Der als Fantasy-Thriller gestaltete Film zeigt schonungslos den Umgang der ungarischen Behörden mit Flüchtlingen aus Syrien. Der junge Syrer Aryan Dashni flieht mit seinem Vater Muraad über die serbische Grenze nach Ungarn. Dort erwartet die Fliehenden ein Polizeikommando. Aryan wird von drei Kugeln getroffen, doch statt tot am Boden zu liegen, schwebt er in die Höhe. Diese Fähigkeit will der behandelnde Arzt Gabor Stern für seine Zwecke ausnutzen. Eine irrwitzige Verfolgungsjagd beginnt. Aryan wird zu einer Art Engel, für dessen Kunststücke vermögende Menschen bereit sind zu zahlen. Gleichzeitig darf sich Aryan nicht in Ungarn aufhalten, und die Behörden sind ihm auf den Fersen.

 

In die Zeit Anfang der 90er Jahre in Frankreich nimmt 120 Battements par minute – BPM (Beats per Minute) von Robin Campillo sein Publikum mit. Der Film gewann den Großen Preis der Jury und schildert die Aktionen der AIDS-Aktivisten Gruppe Act Up zu Beginn der 90er Jahre in Paris. Die Widerstandsgruppe setzte sich mit teilweise radikalen Aktionen für die Rechte der an AIDS Erkrankten ein. Am Anfang zeigt der Film die Gruppe und ihre Aktionen und führt uns behutsam an einzelne Personen heran. Im zweiten Teil geht es um die Auseinandersetzung mit der Pharmaindustrie und Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Gruppe, während am Ende das Schicksal eines Paares im Mittelpunkt steht, als ein Partner an der Krankheit stirbt. Campillo ist ein mitreißender Einblick in die Lesben- und Schwulencommunity der 90er Jahre in Paris gelungen und ein lebensfrohes Plädoyer für eine offene Gesellschaft, die solidarisch miteinander umgeht.

 

Die Goldene Palme gewann The Square von Ruben Östlund, eine unterhaltsame Komödie über political correctness und die damit verbundenen Widersprüche nicht nur innerhalb der schwedischen Gesellschaft. Im Zentrum des Films steht Christian Nielson, der Chef-Kurator des Stockholmer X-Royal-Museums. Seine neueste Idee: Ein 4 mal 4 Meter großer Platz, „eine Schutzzone für Vertrauen und Fürsorge, in der jeder die gleichen Rechte und Pflichten“ hat. Bei den Vorbereitungen zu diesem Projekt wird deutlich, dass Christian, der sich auf allen Ebenen bemüht, ein „richtiges“ Leben zu führen, vollgesogen mit Vorurteilen ist. Als ihm seine Wertsachen gestohlen werden, versucht er sie auf ungewöhnliche Weise zurück zu bekommen und verdächtigt einen ganzen Wohnblock des Diebstahls ‒ mit für ihn unübersehbaren Folgen. Östlund führt den Zuschauern auf satirische Weise die eigenen Widersprüche vor Augen.

 

Good Time von den Brüdern Josh und Benny Safdie entwickelt einen unheimlichen Drive. Erzählt wird die Geschichte von dem Bruderpaar Connie und Nick. Nick ist ein wenig retardiert; gerade als er sich einem Psychologen öffnen will, holt ihn sein Bruder aus der Praxis und überredet ihn zu einem gemeinsamen Banküberfall. Denn Connie braucht Geld für seinen aufwändigen Lebensstil. Auf der Flucht wird Nick von der Polizei gefasst. Für Connie beginnt eine gefährliche Reise durch die Nacht, um seinen Bruder aus dem Gefängnis zu holen. Der Film erzählt diese rasante Geschichte und stellt gleichzeitig die Frage, wer sich besser um Nick kümmern kann: der Bruder oder die Institutionen. Der Film kommt zu einem überraschenden Ergebnis.

 

Kontrovers wurde der Film von Fatih Akin Aus dem Nichts diskutiert. Er erzählt die Geschichte Katjas, einer Frau, die bei einem Anschlag von Nazis ihren Mann und ihren zehnjährigen Sohn verliert. In drei Kapitel entfaltet der Regisseur seinen Stoff: Die Familie – Gerechtigkeit – Das Meer. Im ersten Teil stehen die Trauer und der Verlust im Mittelpunkt, im zweiten der Prozess, der mit einem Freispruch für die Attentäter endet. Der letzte Teil handelt von Katjas Reise nach Griechenland, auf der sie das Recht selbst in die Hand nehmen will. Gerade der Schluss des Filmes hat viele schockiert. Akin erzählt seinen Stoff packend und begibt sich ganz auf die Seite der Angehörigen der Opfer. Seine Empörung und seine hervorragende Hauptdarstellerin Diane Krüger sind der Motor für diesen stark subjektiv gefärbten Film.

 

Die Ökumenische Jury verlieh ihren Preis dem Film „Hikari – Radiance“ von Naomi Kawase. Misako erarbeitet ihre Audiokommentare mit einer Gruppe von Blinden, die ihr jeweils Rückmeldungen geben, ob sie die sprachliche Umsetzung für passend halten. Sie gibt sich Mühe, doch die Vertreter ihrer Zielgruppe sind nicht zufrieden. Hier zeigt der Film, was gemeinsames Lernen erreichen kann. Die Blinden haben Ansprüche und genaue Vorstellungen. Erst langsam ist Misako in der Lage auf die Wünsche einzugehen. Der Film arbeitet die Schnittstelle von visueller Wahrnehmung und deren Versprachlichung in poetischer Weise heraus. Quelle beauté!

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Der japanische Film "Hikari" (Licht) von Naomi Kawase hat den Preis der Ökumenischen Jury gewonnen. Die internationale Jury zeichnete den schwedischen Beitrag "The Square" von Ruben Östlund mit der Goldenen Palme aus.