DOK Leipzig 2017: Nach der Angst

Festivalbericht von Michael Jäger Or

 

„Angst“ - ein deutsches Wort, welches sich in die englische Sprache eingebürgert hat, sprichwörtlich „German Angst“, dieses Grundgefühl ist aktuell allgegenwärtig. Was hält unsere Gesellschaftsordnungen zusammen? Wie verheerend ist der Klimawandel? Werden neue ideologische Blöcke aufgebaut? Inwieweit geschieht Überformung? Um nur einige Fragen aufzugreifen.

Auf diesem Hintergrund wagte die 60. Ausgabe des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm den Blick hinter den Vorhang des alltäglichen Medienangebotes. Mit dem Motto „Nach der Angst“ überschrieben, wurden dem Besucher und Cineasten wieder eine Vielzahl an Dokumentar-, Kurz- und Animationsfilmen angeboten. Das Programm versprach ein starkes Erlebnis und ein hohes Organisationstalent, will man doch so viele Filme wie nur möglich sehen. Dazu gehören in diesem Jahr auch die Retrospektive, eine Hommage an Jay Rosenblatt, das Animationsfilmprogramm sowie der Länderfokus Georgien.  

Monika Grütters, deutsche Kulturstaatsministerin, bemerkte in ihrer Rede zur Eröffnungsveranstaltung: „Nach der Angst ist vor der Veränderung.“ Ein kurzer Satz, der es in sich hat. Und so tauchte das Publikum ein in diese Zwischenzeit, welche die Möglichkeit für Freiheit, Ideen, Kreativität, kritisches Nachfragen bietet.

Die Tür öffnete der Dokumentarfilm „Betrug“ von Daniel Spaeth über einen Hochstapler in München. Im Interviewstil geht der Film einem Betrugsfall in einem Kindergarten für Besserverdiener nach, und auf sympathische Weise wird das Publikum mit den Fragen von Schuld, Lüge, Vergebung, (Ent)Täuschung, bewusstem Wegsehen und Wiedergutmachung konfrontiert. Dabei verwischen die Grenzen zwischen Täter und Opfer, Schuld und Ahnungslosigkeit.

Und schon waren wir mittendrin in den Themen der Gegenwart, des Alltages, der Milieus. Als interreligiöse Jury beim Leipziger DOK-Festival wurde uns die Aufgabe gestellt, aus zwölf Filmen des internationalen Wettbewerbs einen Dokumentarfilm auszuzeichnen, und zwar aus künstlerisch-ästhetischer Sicht, religiöser Dimension, Darstellung der Menschenwürde und einer universellen Bedeutung. Hohe Anforderungen und Basis für qualifizierte Diskussionen über die gesehenen Filme!

Vorangestellt sei: Die 12 Filme des internationalen Wettbewerbs wurden aus 3000 eingesandten Dokumentarfilmen ausgewählt, um diese einem breiteren Publikum zu zeigen. Allein das ist schon Auszeichnung genug. Jedoch konnten nur wenige Filme den spezifischen Anforderungen der Beurteilungskriterien der interreligiösen Jury entsprechen.

Nicolàs Torchinskys „The Centaur's Nostalgia“ wagt einen Blick in die karge Landschaft Argentiniens und begleitet einen alten Gaucho, Relikt einer wohl längst vergangenen Zeit, jedoch gegenwärtig-traditionell. Die Kamera nimmt uns mit in eine vermeintlich romantische Welt der Viehzüchter, die doch zugleich hart und mühsam ist. Torchinsky hört zu, sieht hin, ist wachsam und neugierig, und seine Bilder entfalten einen starken, mystischen Sog.

Anders dagegen „Das Kongo Tribunal“ (Lobende Erwähnung der Internationalen Jury). Milo Rau inszeniert im Kongo eine Art Gerichtssitzung über Rohstoff-Ausbeutung, ethnische Konflikte, koloniale Willkür, Gewalt, Umweltzerstörung. Jeder einzelne Punkt wäre schon ein eigener Dokumentarfilm wert, zumal die Topoi gerade aus interreligiöser Sicht brandaktuell sind und zur Diskussion anregen. Jedoch gelingt es dem Film nur bedingt, Empathie zu erzeugen und eine breit aufgestellte Debatte zu initiieren. Allein der Satz des Filmemachers beim Q&A wirkt noch nach: „Aus Kunst kann Realität entstehen“. Bleibt zu hoffen, dass sich Politik und Wirtschaft den Problemen im Kongo ehrlich annehmen, ist es doch eine Herausforderung globalen Ausmaßes.

„A Strange New Beauty“, „Call me Toni“, „Gwendolyn“, „Licu, a Romanian Story“ (Goldene Taube der Internationalen Jury), „Pushkar Myths“, „Raw“, „Secret Nest“, „The Project“ und „When the Bull Cried“ - allesamt nahmen sie uns mit auf wunderbare Wege, ins Hochgebirge Boliviens, in einsame Häuser, zu Schicksalen aus Kriegstagen, an alltägliche Orte in Porto usw. Fast gleicht dies einer 360° Perspektive.

Doch am berührendesten und nachhaltigsten prägte sich der interreligiösen Jury der Film „Love is Potatoes“ von Aliona van der Horst ein. In einem wackeligen Haus in Russland geht die Filmemacherin ihrer eigenen Familiengeschichte nach und trifft auf Verwandte wie Nachbarn, auf Verschlossenheit und Aufarbeitung, auf Vergessen und Erinnern. Wer interpretiert die Geschichte korrekt? Gibt es verschiedene Zugänge zur Vergangenheit, auf welcher die Gegenwart fußt? Van der Horst bietet eine Vielzahl an Beobachtungen, Befragungen, Begegnungen, Briefzitaten, alten Fotos an – all das fein und sauber arrangiert und mit Animationen kombiniert.

Ein sehenswerter Film, der nachdenklich stimmt und dennoch Humor nicht missen lässt. Für die Diskussion über die Rolle der Ideologien und deren Auswirkung auf den einzelnen, die verschiedensten Interpretationen der geschichtlichen Vorgänge, die Möglichkeit zur Aussöhnung durch Religion (wie auch durch den Atheismus) und die Sicht auf das (Familien)Leben im Spiegel der Vergangenheit und Gegenwart gibt der Film genügend Anregungen.

In einer Woche voll von filmischen Eindrücken und vielen Begegnungen habe ich persönlich Menschen auf der Leinwand wie bei den verschiedensten Get Togethers getroffen, denen ich sonst in meinem Alltag nie über den Weg gelaufen wäre. Das allein hat schon eine besondere Sogwirkung und ist ein nachhaltiges Erlebnis. Die Welt ist riesig und die Undurchschaubarkeit der vielen Themen, Vorgänge, Herausforderungen, Zusammenhänge usw. wird allenthalben beschworen. Das DOK Leipzig Festival gewährt jedes Jahr einen starken Einblick wie auch einen kleinen Auszug unserer gegenwärtigen Welt, ohne dabei nicht auch die Vergangenheit und die (filmische) Tradition nicht aus dem Blick zu verlieren. Welchen Blickwinkel wir in diesem großem Panorama einnehmen ist uns überlassen. Eines ist jedoch sicher: Nach dem Festival sind wir verändert.