Armenien im Kontext: Filmkunst und Geschichte

Bericht vom 12. Golden Apricot Filmfestival Jerewan

Die Ökumenische Jury Jerewan 2015, v.l.: Jochen Gollin, Fr. Ruben Zagaryan, Jean Jacques Cunnac

   
Viele Filmfans, vor allem junge, drängten ins Kino, um die Auswahl von über 200 Filmen aus mehr als 50 Ländern in unterschiedlich großen Kinosälen des zu Sowjetzeiten erbauten Moskva zu sehen.
 
Im Wettbewerb standen 88 Filme in 5 Sektionen: Internationaler Wettbewerb der Spielfilme, der Dokumentarfilme, der Kurzfilme und der "Films across Borders" sowie der nationale Wettbewerb "Armenisches Panorama". Außerhalb des Wettbewerbs liefen ferner Filme in den Reihen "Neues deutsches Kino" (z.B. Als wir träumten von Andreas Dresen und Wir sind jung, wir sind stark von Burhan Qurbani) und "Neues französisches Kino".  Der zum Spielfilmwettbewerb eingeladene deutsche Film Freistatt von Marc Brummund gewann den "Audience Award". Die Retrospektiven waren Ornella Muti und Nastassja Kinski gewidmet.
 
„Never again“ und „We exist“: 1915 - 2015
 
Das diesjährige Festival konnte die 100jährige Wiederkehr des Genozids nicht übergehen. Die Reihe „We exist“ brachte Filme wie z.B. den Eröffnungsfilm Don´t tell me the boy was mad (Frankreich 2015) des französischen Regisseurs Robert Guédiguian , als Sohn eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter aufgewachsen in Marseille. Der Film behandelt die Tragödie von 1915 aus der Perspektive von armenischen Terroristen in den 70er und 80er Jahren, deren Ziel es war, durch Anschläge das Thema „Genozid an den Armeniern“ auf die Tagesordnung der Weltöffentlichkeit zu setzen. Ein anderer Film in dieser Reihe von Songül Özbakir porträtiert den deutschen Pfarrer Johannes Lepsius und sein Engagement für die armenische Sache: Homo politicus (Türkei 2014, 30 Minuten). In der Filmreihe "Never again" weitete das Festival den Blick aus auf andere Genocide des 20. Jahrhunderts und zeigte u.a. Alain Resnais' Nacht und Nebel, Christian Petzolds Phoenix und Joshua Oppenheimers The Act of Killing
 
 
Die Ökumenische Jury
 
Die Ökumenische Jury bestand aus drei Personen: Jean Jacques Cunnac, Montpellier, für SIGNIS, Father Ruben Zargaryan für die  Armenische Apostolische Kirche und Jochen Gollin, Frankfurt am Main, für INTERFILM.
 
Wir lebten und arbeiteten unter ausgezeichneten Bedingungen. Wie jede der sechs Juries wurden auch wir von einer Koordinatorin vom Vormittag bis in die späte Nacht begleitet und betreut: Arminé Ghalachyan.
Zehn Filme waren zu sichten, welche die künstlerische Leitung des Festivals, verantwortet von der charmanten Susanna Harutyunyan, im Voraus ausgesucht hatte. Entgegen meinen Erwartungen kamen lediglich zwei aus dem internationalen Spielfilmwettbewerb (Herkunft: Russland und Türkei), sieben dafür aus der Sektion "Films across Borders" (Primäre Herkunftsländer: Georgien, Rußland, Türkei, Kirgisien, Israel, Usbekistan),  und ein Film aus dem Wettbewerb "Armenisches Panorama". Nach Susannas Worten sollte durch unseren Preis das Filmschaffen in der weiteren Region Armeniens gewürdigt werden.
 
 
Die Filme der Jury-Auswahl
 
Der armenische Film Moskvich, My Love (Armenien 2014) von Aram Shahbazyan erhielt sowohl den Preis der Ökumenischen Jury als auch den Preis der FIPRESCI-Jury: Hamo, ein alter Bauer, lebt mit seiner Frau nach der Flucht aus Aserbeidschan Anfang der neunziger Jahre in einem abgelegenen Dorf in den Bergen Armeniens. Das Geld, das ihnen der Sohn aus Rußland regelmäßig überweist, sichert ihnen den Lebensunterhalt. Der Film ist angesiedelt im Übergangsfeld von sozialistischer Planwirtschaft mit ihren unerfüllten Verheissungen und freier Marktwirtschaft, deren Opfern die Politiker im Wahlkampf erneut das Blaue vom Himmel versprechen. Der Film erzählt den von Komik durchzogenen langsamen Abschied des Protagonisten von einem alten Traum, zeigt inmitten der Ambivalenzen einer Dorfgemeinschaft zärtlich und genau die Liebe zweier alter Menschen, streift ökonomische und historische Bezüge und ironisiert die aktuelle Bürokratie und Politik, und dies alles dramaturgisch überzeugend.
 
 
Ähnlich läßt sich der russische Film Pioneer Heroes (Rußland 2015) von Natalia Kudryashova im genannten Übergangsfeld verorten. Wir schreiben das Jahr 1987: Olga, Katja und Andrej gehen zu den Pionieren. Sie werden die letzten Pioniere der UdSSR sein. Große Ideen und Ideale prägen sie bis in ihre Träume und kontrastieren mit dem prosaischen Alltag. 20 Jahre später werden sie als Erwachsene mit einer Realität konfrontiert, die von ihnen keine Heldentaten erwartet. Dem Debutfilm mangelt es an ausreichender Bündelung der Erzählstränge. Die Zeichnung der Charaktere wirkt holzschnittartig.
 
 
Ebenso läßt sich die georgisch/deutsch/französische Koproduktion Line of Credit von Salomé Alexí (2014) im Kontext der postsozialistischen Entwicklungen einordnen. Der quasi dokumentarische Spielfilm schildert exemplarisch den Abstieg einer Familie, die nicht mehr herausfindet aus dem heimtückischen Zirkel immer größer werdender Hypothekenschulden, die aufzunehmen sie gezwungen sind im wirtschaftlichen Übergang ihres Landes (Diese Geschichte erzählt eine von 172 300 Familientragödien, in denen Georgier zwischen 2009 und 2013 ihr Eigentum verloren, weil sie ihre Hypothekenkredite nicht mehr zurückzahlen konnten).
 
 
Besondere Aufmerksamkeit erhielten in der Jury die Filme Sivas, Snow Pirates und Corn Island (Die Maisinsel).  Die beiden ersten spielen in abgelegenen Gegenden der Türkei, der dritte am Grenzfluß zwischen Georgien und Abchasien.
 
In Sivas von Kaan Müjdeci rettet der 11 jährige Aslan einen verletzten Kampfhund namens Sivas und benutzt den Hund, um seinen Klassenkameraden zu imponieren. Gleichzeitig begleitet er den Vater und älteren Bruder, die mit Sivas erfolgreich und finanziell einträglich illegale Hundewettkämpfe bestreiten. Der Film fragt, wie es um die Entwicklungsmöglichkeiten eines Jungen steht, der in eine brutale Erwachsenenwelt hineinwächst und dem die Vorbilder für Liebe und Solidarität mit allen Kreaturen fehlen. Im Vorspann wird der Film als ´work in progress` bezeichnet. Nach der Vorführung kam ich ins Gespräch mit der Übersetzerin, die für die englischen Untertitel verantwortlich war. Sie erzählte mir, daß der brutale Schluß des Films für sie  neu war. Gleichzeitig sei das ursprünglich sehr heftige Streitgespräch im Auto zwischen Aslan einerseits und dem Vater und älteren Bruder andererseits über die Frage, ob Sivas weiterhin an Hundekämpfen teilnehmen sollte (– Aslan will das verhindern – ), erheblich gekürzt und so die Aggressivität herausgenommen worden. Die Jury sprach eine Lobende Erwähnung für diesen Film aus.
 
 
Der Film Snow Pirates von Faruk Hacihafizoglu schildert, wie drei Jugendliche im harten Winter von 1981 über das „Fringsen“  (Kohlenklau) in der osttürkischen Stadt Kars (zugleich Geburtsstadt des Regisseurs) zunehmend begreifen, wie Repräsentanten des Staates der Bevölkerung nicht nur die knappe Kohle vorenthalten zugunsten staatlicher Stellen und privilegierter Bürger sondern ebenso die Freiheit. Über ihr Handeln zugunsten ihrer Familien und ihre Empathie für den Obdachlosen und den verhafteten jungen Lehrer lernen sie Solidarität. Mit dem Schwarz der Kohle und dem Weiß des Schnees schafft die Kamera einprägsame Bilder bis hin zum hoffnungsvollen Finale.
 
Corn Island (Georgien) hätte den Preis der Ökumenischen Jury erhalten, wenn der Film nicht schon in Karlovy Vary (Karlsbad) von der Ökumenischen Jury bedacht worden wäre. In Deutschland wurde er von der Evangelischen Filmjury als FILM DES MONATS Juni 2015 ausgezeichnet. Umso mehr habe ich mich gefreut, den Regisseur George Ovashvili kennenzulernen, mitsamt seinem Sohn und der bezaubernden Laiendarstellerin Mariam Buturishvili, die im Film die Rolle der Enkelin spielt. Auf dem Open-Air-Empfang anläßlich des  60. Geburtstags von Harutyun Khachatryian, dem Mitbegründer des Festivals, in Saghmosavank am Fuße des Ara habe ich das nebenstehende Foto gemacht.
 
 
Der Film 40 Days of Silence (Usbekistan/Niederlande/Frankreich/Deutschland) von Saodat Ismailova läßt uns teilhaben an den Bewegungen und wenigen Begegnungen einer jungen Frau, die das Gelübde abgelegt hat, 40 Tage zu schweigen. Ihr Weg nach innen zwecks Reifung in einer patriarchalen Umwelt wird bildlich  in viele dunkle Szenen übersetzt, die den Zuschauer eher ratlos machen, als dass sie eine Entwicklung oder Selbsterkenntnis der Frau zum Ausdruck brächten.
 
 
Im Gegensatz dazu steht die Klarheit der tableauartigen Bilder und sehr langen Kameraeinstellungen in dem ebenfalls kontemplativ angelegten kirgisischen Film The Move von Marat  Sarulu (2014, 168 Minuten) Der Versuch einer jungen Frau, ihren Vater und ihre Tochter vom Land in die Stadt zu holen und so die Familie zusammenzuführen, scheitert. Am Ende landet der Vater im Altersheim, die Tochter im Kinderheim  und sie selbst fährt auf Arbeitssuche nach Russland. Die Flucht vom Land in die Stadt macht den Einzelnen bindungslos und einsam. Was bleibt, ist das Gefühl einer großen Traurigkeit.
 
 
Soziale Probleme, die typisch sind für ihre Herkunftsländer, behandeln die beiden letzten Filme unserer Auswahl.
 
Zunächst The Clinch von Sergei Puskepalis (Russland 2015). Im Zentrum steht die gefährliche Begegnung zwischen einem Lehrer und einer ehemaligen Schülerin, in die seine Familie mit hineingezogen wird. Der Film gibt einen Einblick in die extreme Polarisierung der russischen Gesellschaft z.B. zwischen rebellierender krimineller Jugend einerseits und der Intelligenzija  mittleren Alters – beide auf ihre Art randständig. Die Schule, eine Institution, die beide Gruppen eigentlich zusammenhalten sollte, kann diese Aufgabe nicht leisten, was in diesem Fall zu tragikomischen Verwicklungen führt.
 
 
Das kammerspielartige Drama Ben Zaken (Israel 2014) von Efrat Corem handelt von einer Drei-Generationen-Familie, deren Mitglieder sich schwer tun, Gefühle und Gedanken direkt zu äußern. Die Unfähigkeit zu lieben und zu tolerieren bei der Großmutter und ihren Söhnen droht die Entwicklung der Enkelin zu behindern.
 
 
Closing Film
 
Nach Abschluß der Preisverleihung Samstagabend sahen wir Namus, den Stummfilm von Hamo Beknazarian aus dem Jahr 1925. Der 2005 im Auftrag von ARTE digital restaurierte Film gilt als der erste armenische Spielfilm und prangert die despotischen Riten und Sitten kaukasischer Familien im vorrevolutionären Russland an. Die Liebe zwischen zwei Menschen, Seyran und Susan, scheitert an der Familienehre (dies ist die Bedeutung des Wortes `Namus´), die verbietet, daß sich die Verlobten vor der Hochzeit heimlich treffen. Wir sahen eine Fassung mit ausschließlich armenischen Zwischentexten. Auch ohne verständliche Zwischentexte machen Mimik, Bewegung und Körpersprache der Darsteller den Film zu einem unvergesslichen Erlebnis.