9. Europäischer John Templeton-Filmpreis 2005

Auszeichnung für "L'enfant" von Jean-Luc und Pierre Dardenne


Der 9. Europäische John Templeton-Filmpreis wurde verliehen an den Film L'ENFANT (Das Kind) von Jean-Pierre und Luc Dardenne (Frankreich/Belgien 2004, Produktion: Les Films du Fleuve & Archipel 35).

L'enfant erzählt von Bruno, Sonia und ihrem neugeborenen Sohn Jimmy, die von Sozialhilfe und Diebstählen leben. Ohne nachzudenken, verkauft Bruno das Kind an kriminelle Kinderhändler. Die verheerenden Folgen seiner Tat für Sonia und ihre Beziehung führen Bruno Schritt für Schritt zu der Einsicht, was es bedeutet, erwachsen zu werden. Mit ihrer Auszeichnung hebt die Jury die im Film vermittelten Werte wie Brunos Reue, Sonias Vergebung und ihre gegenseitige Versöhnung hervor. Der Verzicht auf Effekte und Musik zugunsten von Hintergrundsgeräuschen, realistischen Dialogen, einer hautnahen Kamera und schauspielerischer Unmittelbarkeit verleihen dem Film seinen ästhetischen Rang.

Der Film gewann die Goldene Palme am 58. Internat. Filmfestival 2005 in Cannes und wurde von der Evangelischen Filmjury in Deutschland als "Film des Monats" November 2005 ausgezeichnet.

Der European John Templeton Film Award wird im Auftrag der renommierten John Templeton Foundation mit Sitz in den USA durch die Internationale kirchliche Filmorganisation INTERFILM und die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) vergeben. Der Preis ist mit 10.000.- € dotiert und mit einer Urkunde verbunden. Er wird Filmen verliehen, die
- sich durch besondere künstlerische Qualität auszeichnen;
- einer menschlichen Haltung Ausdruck geben, die mit der biblischen Botschaft übereinstimmt oder sie zur Debatte stellt;
- die das Publikum zur Auseinandersetzung mit spirituellen oder sozialen Werten und Fragen anregt
- und die während des in Frage kommenden Jahres bereits mit einem Ökumenischen Preis oder als "Film des Monats" der Evangelischen Filmjury in Deutschland oder des Katholischen Mediendienstes und der Reformierten Medien in der Schweiz ausgezeichnet worden sind.

Die Preisverleihung fand während der diesjährigen Berlinale im Rahmen eines Gottesdienstes am Sonntag, den 12. Februar 2006, in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt statt. Die Predigt hielt Hans W.Dannowski, Ehrenpräsident von INTERFILM.

 

Predigt

zur Verleihung des 9. Europäischen Templeton-Filmpreises an
L'ENFANT von Jean-Pierre und Luc Dardenne
in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt
in Berlin am 12. Februar 2006


Aus dem berühmten "Hohelied der Liebe" in 1. Korinther 13 habe ich einen kleinen Abschnitt als Grundlage für meine Predigt gewählt. "Die Liebe hört niemals auf", hat Paulus geschrieben, hat über das Stückwerk unseres Wissens, unserer Erkenntnis und unserer Reden gesprochen und fährt dann fort:
"Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin."
1. Korinther 13, 10-12

Verehrte Damen und Herren, liebe Gemeinde in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin!

Als Bruno seiner Freundin Sonia, fast nebenher und völlig selbstverständlich, mitteilt, dass er ihr gemeinsames Kind gerade verkauft hat: Da fällt Sonia einfach um. Nichts weiter gedacht hat sich Bruno offenbar dabei. "Ich dachte, wir machen einfach ein neues", ist seine einzige Verteidigung. Richtig wahrgenommen hat er das Kind bisher sowieso nicht. Als Sonia aus dem Krankenhaus kommt und sie Bruno endlich bei den Autos findet, da schaut er sein Kind nur flüchtig an. Einen zweiten Namen hat er für Jimmy sowieso nicht, irgendeinen Gedanken daran hat er nun wirklich nicht verschwendet. Kinder sind die beiden eigentlich noch selbst, Bruno und Sonia. Tollen miteinander herum wie kleine Hunde oder kleine Katzen. Und die Diebstähle, die Bruno mit seinen beiden kleinen Komplizen inszeniert, kann man ihm auch gar nicht so recht übelnehmen. Eine Ära kindlicher Unschuld und Spielerei ist um das alles, und Sonia wirft dem Freund seine krummen Wege auch überhaupt nicht vor. Ehrlich geteilt wird das sowieso alles ganz genau. Aber auf einmal ist ein kritischer Punkt, eine Bruchstelle des Lebens bei beiden erreicht. Sonia hat ein Kind geboren. Jimmy ist da. Und als Bruno Jimmy einfach verschachert, wie er den gestohlenen Schmuck, die Videokamera und den CD-Player verschachert, da fällt Sonia wie tot um. Da ist offenbar die Zeit der kindlichen Unschuld um und vorbei. Das ist der Umbruch, das ist die Krisis in dem Film L'ENFANT von Jean-Pierre und Lue Dardenne, dem wir heute den Templeton-Filmpreis 2005 verleihen.

"Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind", schreibt der Apostel Paulus an die christliche Gemeinde von Korinth. "Als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war". Über die Beziehungen zwischen dem Kind und dem Erwachsenen in uns Menschen wissen wir heute, dank der Psychoanalyse, etwas genauer Bescheid, als es Paulus wissen konnte. Dass es wichtig ist, dass auch der Erwachsene das Kind in sich nicht verleugnet und nicht verdrängt. Denn das Kind in uns, das ist die Freude am Leben. Das Kind in uns, das ist die Spontaneität und Unmittelbarkeit, ja, auch das Anarchische, der spielerische Umgang mit den Dingen und den Ereignissen des Lebens. Aber wenn der Erwachsene nur noch Kind ist?! Dann wird er weiterhin damit rechnen, dass ihm alles in den Schoß fällt, wie es ihm einst als kleines Kind geschah. Dann wird er weiterhin voraussetzen, dass die ganze Welt um ihn herum nur dafür da ist, um ihm seine Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Dann werden die Personen und die Dinge austauschbar, weil alles nur dazu dient, das eigene Lustgefühl zu steigern. Dann steht ein Mann wie Bruno vor unseren Augen: Den Einfällen und den Zufällen des Tages ausgeliefert. "Ich finde immer Geld", wird er sagen, "wozu was übrig lassen". Ein Balanceakt auf einem Seil ist das, dem man eine Weile fasziniert zuschaut. Bis man mehr und mehr ahnt, dass der Absturz droht. Denn dieser junge Mann hat es in den 20 Jahren seines Lebens nicht geschafft, aus dem geschützten Raum des Kindes langsam herauszuwachsen und seinen eigenen, unverwechselbaren Ort zu finden in dem Geflecht der Beziehungen des Lebens. Dass der Mensch nicht sein eigener Kosmos ist, um den sich alles dreht; dass der Mensch Antwort ist (response) und dass darum die Verantwortung (responsibility) die personale Mitte seines Lebens ist: Das hat er offenbar nie geübt. Erwachsen sein heißt ja nicht nur, von der Austauschbarkeit der Dinge und der Menschen Abschied nehmen. Erwachsen sein heißt auch begreifen, wie die Dinge und die Personen einen Menschen prägen. Ja, erwachsen sein heißt verstehen zu lernen, dass das Ich – ein Anderer ist.

Mit dieser Wendung habe ich, liebe Gemeinde, den Gedanken eines Mannes aufgegriffen, der vor vier Wochen 100 Jahre alt geworden wäre. Emmanuel Levinas ist der Philosoph gewesen, der - von seinem jüdischen Hintergrund her - wie kein zweiter die Subjektivität des Menschen radikal vom Anderen her versteht. Jede Begegnung mit einem Menschen verändert mich. Jede Begegnung mit einer Sache, noch mehr mit einem Menschen, die mich wirklich betrifft: Die wirft mich um. In dem vorrangigen Bezug auf den Anderen bricht die selbstgenügsame Identität des Ich auf und verwandelt sie. Das Ich, das das Ich des Anderen gastlich bei sich aufnimmt, wird ein Anderes. So wird aus dem selbstvergessenen Kind der Erwachsene, der sein Kindsein hoffentlich nicht verliert, aber der zugleich Andere und vielleicht sogar ein ganzes Stück der Welt bei sich wohnen lässt.

Und nun gestatten Sie bitte, verehrte Damen und Herren, dass ich ganz direkt an Sie herantrete und Sie bitte, Ihren eigenen Erinnerungen für eine Weile in sich Raum zu geben. Wer oder was hat mich geprägt, drückt mir noch immer seinen Stempel auf, erwartet, dass ich es hineinnehme in ein größeres Ganzes, das ich selber bin? Da sind die Eltern: So oder so, wie sie eben waren, nicht nur im Äußeren haben sie mich entscheidend mitbestimmt. Da sind die Lehrer, deren Gedanken ich denke, als wären es die eigenen. Und was ist diese wunderbare Erfahrung von Liebe anderes als das Aufbrechen meiner Identität zu einem Anderen hin. Die Faszination, die sie oder er auf mich ausübt als Spiegel meines heimliches Wesens, ist doch eine einzige Aufforderung, den Anderen, die Andere in mich aufzunehmen und bei mir wohnen zu lassen. Ihre Gedanken, seine Gedanken mitzudenken, ihre Reaktionen und Erfahrungen mitzuerleben, manchmal, noch ehe sie sich zeigen. Erwachsen sein, das ist doch kein Status, ist kein Ziel. Eine ungeheure Lebendigkeit ist das, in der sich das Ich durch die Begegnung mit dem Anderen permanent verwandelt. "Sie haben sich gar nicht verändert": Wenn das nicht nur auf das Äußere geht, ist das in der Tat die größte Beleidigung, die es gibt. Wir sind unterwegs, sind noch immer dieselben und werden doch ständig Andere. "Als ich ein Kind war," schreibt Paulus, "da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind... Als Ich aber ein Mann, eine Frau wurde, da tat ich ab, was kindlich war...".

Das Ich ein Anderer... Wie aber kommt es zu dem Übergang, gerade wenn ein Mensch - wie Bruno - sich dem Erwachsenwerden hartnäckig verweigert und wie ein Traumtänzer durch diese Zeit und Welt geht? Eine einfache und klare Geschichte erzählen Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem Film. Aber hintergründig ist das, was sie über die Existenzweisen des Menschlichen und über die Krisen des Übergangs mir mitzuteilen wissen. Nicht ohne Hintergedanken habe ich die kleine Szene, in der Sonia wie tot umfallt und im Krankenhaus landet, als Bruno ihr vom Verkauf des gemeinsamen Kindes erzählt, an den Anfang meiner Predigt gesetzt. Manchmal genügt offenbar nicht die Gegenwart des Anderen, um meine selbstversessenen Kreise zu stören. Manchmal muss es der mögliche Tod des Anderen sein. Manchmal wird es der mögliche oder reale Tod des Anderen sein, der mich durch und durch schüttelt. Der mir deutlich macht, dass ich kein Solitär, sondern Antwort bin und Verantwortung trage. Ein ganzer Katarakt von Gedanken stürzt an dieser Stelle auf mich ein. Vielleicht ist es gar nicht der eigene Tod - geht mir durch den Kopf -, der das Fragezeichen meines Lebens ist. Dass ich einmal nicht mehr sein werde, macht mich ja auch in meiner ständigen Sorge um mich selbst zu einer komischen Figur. "Was hast du nicht, das du nicht empfangen hättest", würde Paulus an dieser Stelle sagen. Aber der mögliche oder reale Tod des Anderen nimmt mir meine Seelenruhe. Ich kann dann doch nicht mehr so weiterleben wie bisher! Wer bin ich dann noch, wenn es den Anderen, die Andere nicht mehr gibt?! Und es wird mir auf einmal deutlich, dass die Frauen und Männer meiner Generation, die wir in der Nazizeit noch Kinder waren, durch das Sterben der Brüder und Väter und Mütter im Krieg, durch den millionenfachen Mord an den Juden, durch die Hinrichtung der Männer des 20. Juli bis ins Letzte hinein in unserem Selbstverständnis bestimmt sind. Der Tod der Anderen hat uns zu Erwachsenen gemacht und in unsere Verantwortlichkeit gerufen. Das wird nie mehr aus unserem Leben verschwinden, solange wir da sind. Es bleibt die offene Frage, wie wir das gegenwärtige permanente Sterben und Morden um uns herum noch in unser Selbstbild integrieren können. Der reale oder mögliche Tod des Anderen wird der kritische Punkt des Lebens bleiben. Das Leben, an der Lebensgeschichte des Bruno ist das wie unter einem Brennglas abzulesen, kann danach eigentlich nicht so weitergehen wie bisher.
"Als ich ein Mann, eine Frau wurde, tat ich ab, was kindlich war". Unterwegs sind wir, in ständiger Verwandlung, durch den Anderen und durch den möglichen Tod des Anderen bestimmt. Stückwerk ist das alles und wird es bleiben, sagt Paulus. Stückwerk das Reden, das Erkennen, das Lieben, das Handeln: Alles. Aber einen letzten Schritt möchte ich doch noch mit Ihnen gehen, liebe Gemeinde, von den Worten des Apostels Paulus an die Hand genommen. Unterwegs sind wir, ja, und Fragment bleibt alles, was wir sind und tun. Aber unterwegs sind wir zu einem Ziel. Mut zum Stückwerk, Mut zum Fragment unseres Lebens haben wir, sagt Paulus, weil wir auf das Vollkommene hoffen. In jeder Begegnung steckt die Hoffnung auf eine endgültige Erfüllung. In jedem Glück nistet die Erwartung einer Seligkeit, die bleibt. In jedem aufmerksamen Blick des Anderen erreicht mich ein Stück der Botschaft: Du bist dir selbst geschenkt! Das sichtbare Bild des unsichtbaren Gottes wirst du sein! Mein Mut zum Leben verdankt sich dem Lebenswillen Gottes, meine Zähigkeit ist Leihgabe meiner Zuversicht, meine Verzweiflung birgt sich in seiner Nähe. Die Hoffnung auf einen guten Ausgang des Lebens, an den ich fest glaube, ragt in meine Gegenwart hinein. Um es noch einmal mit den Worten von Emmanuel Levinas zu sagen: Die Spur des Unendlichen entdecke ich im Angesicht des Anderen. Dann aber, ja dann aber: Dann werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Und so gehe ich, liebe Gemeinde, mit der wunderbaren letzten Einstellung des Films von Jean-Pierre und Lue Dardenne durch diese Tage. Bruno und Sonia treffen sich in der Kantine des Gefängnisses, in dem Bruno jetzt ist. Vorsichtig und unbeholfen sind die ersten Worte und Bewegungen, von den Verletzungen der Vergangenheit bestimmt. Plötzlich bricht ein Strom der Erschütterung aus Bruno heraus, auch Sonia weint. Und dann greifen die beiden, am Tisch sich gegenübersitzend, nach dem Gesicht des Anderen. Halten sich aneinander fest, lassen sich wieder los, greifen neu nach dem Anderen. Schauen, durch den Schleier der Tränen hindurch, einander ins Gesicht. Und man spürt: Da ereignet sich etwas, was die Begegnung zweier Menschen in Raum und Zeit weit überschreitet. Vergebung ist möglich, weiß ich auf einmal. Umkehr, ein neuer Anfang. Der Augenblick der Wahrheit ist da, in dem ich weiß, dass ich Antwort bin auf einen Ruf, der von ferne kommt und ganz nahe bei mir ist. Eben: Diese Erfahrung des aufgedeckten Lebens. Von Angesicht zu Angesicht.

Amen.