61. Filmfestival in Cannes

Festivalbericht von Margrit Frölich, Mitglied der Ökumenischen Jury

Dass ausgerechnet der französische Beitrag ENTRE LES MURS beim diesjährigen Festival in Cannes die Goldene Palme gewinnen würde, war eine große Überraschung. Wenig preisverdächtig schien auf den ersten Blick das Thema: ein engagierter Lehrer, der sich im multikulturellen Alltag einer Pariser Schule bewähren muss. Noch dazu ein Film, der ohne Stars auskommt: Die mitwirkenden Jugendlichen werden von echten Schülern und Schülerinnen dargestellt, der Lehrer von François Bégaudeau, einem freiberuflichen Pädagogen und Publizisten, auf dessen gleichnamigem Buch der Film basiert. Was seine Figur auszeichnet, ist die Gabe, sich auf die Wahrnehmungswelten seiner Schüler einlassen zu können, ohne dabei den eigenen Bildungsanspruch zu kompromittieren. Trotz der Anerkennung, die ihm die Schulklasse entgegenbringt, und beachtlicher Lernerfolge, die die Schüler erzielen, bleiben Konflikte nicht aus; und sie haben Folgen von ungeahnter Tragweite: wenn etwa der drohende Schulverweis eines problematischen Schülers dazu führen wird, dass dieser von den Eltern zur Strafe in sein Herkunftsland Mali zurückgeschickt wird. Über die Intention seines Films hat Regisseur Laurent Cantet (L’EMPLOIS DU TEMPS, 2001) gesagt, er habe die Schule als einen Ort zeigen wollen, in dem sich die Turbulenzen unserer Gegenwart widerspiegeln, als einen Mikrokosmos, wo Fragen von Chancengleichheit, Arbeit und Macht, kultureller und sozialer Integration bzw. Exklusion unmittelbar sichtbar werden. ENTRE LE MURS zeugt von der Wiederkehr des Politischen und Sozialen im Film. Mit seiner erfrischenden Erzählweise, die den Zuschauer mitten ins Geschehen zieht, hat dieser unprätentiöse Film tatsächlich das gewisse Etwas. Das hat die internationale Jury richtig erkannt.

Den Preis für das beste Drehbuch erhielten die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne für den Film LE SILENCE DER LORNA, ebenfalls ein realistisches Sozialdrama zu einem aktuellen Thema. Hier geht es um das Elend irregulärer Einwanderung. Um ihren Aufenthaltsstatus zu legalisieren, ist die aus Albanien stammende Lorna eine Scheinehe mit dem drogenabhängigen Claudy eingegangen, vermittelt durch den zwielichtigen Fabbio. Dieser möchte die junge Frau, die durch ihre Heirat die belgische Staatsangehörigkeit erlangt hat, ein zweites Mal verheiraten, diesmal mit einem russischen Mafioso, der bereit ist, viel Geld dafür zu zahlen. Die Beteiligung, die er Lorna in Aussicht stellt, wird sie der Erfüllung ihres Lebenstraumes ein Stück näher bringen: der Eröffnung eines kleinen Restaurants. Der korrupte Plan setzt jedoch die Beendigung ihrer Ehe mit Claudy voraus. Kaltblütig plant Fabbio, Lornas drogensüchtigen Ehemann aus dem Weg zu schaffen. Dies stellt die junge Frau vor die Frage, wie sie sich angesichts dieses Mordkomplotts verhalten soll. Mit LE SILENCE DE LORNA haben die Brüder Dardenne ihr Talent für lebensnahe Beschreibungen randständiger sozialer Milieus bewiesen. Auch hier erzählen sie eine Geschichte, deren Verlauf nicht Geläufiges reproduziert, sondern sich durch individualisierte Figurenzeichnung und unvorhergesehene Wendungen auszeichnet. Eine Entdeckung ist die junge Darstellerin der Lorna (Arta Dobroshi). Ob jedoch die Wandlung, die ihre Figur zum Ende des Films durchläuft, in jeder Hinsicht überzeugt, darüber werden die Meinungen auseinander gehen.

Die Ökumenische Jury verlieh ihren Preis an den kanadischen Film ADORATION von Atom Egoyan (der bereits 1997 in Cannes den Preis der Ökumenischen Jury für DAS SÜßE JENSEITS erhalten hat). Sein neuer Film beschäftigt sich mit universell brisanten Themen der heutigen Gegenwart: der Angst vor Terror in Folge des 11. September 2001; dem Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen; Selbst- und Fremdzuschreibungen; dem Internet als technologischem Medium zur Konstruktion individueller Identitäten und als Forum globaler Kommunikation. Im Mittelpunkt des komplex angelegten Films steht der sechzehnjährige Simon, Sohn einer Musikerin und eines arabischstämmigen Vaters, der seine Eltern früh bei einem tragischen Verkehrsunfall verloren hat. Als er im Französischunterricht einen Zeitungsartikel übersetzen soll, in dem es um einen Mann geht, der seiner schwangeren Freundin eine Bombe ins Reisegepäck legt, die auf einem Flug mit einer El Al Maschine explodieren soll, schreibt Simon die Geschichte um, indem er sich als Sohn dieses Paares präsentiert. Seine Lehrerin Sabine (Arsinee Khanjian), die nicht nur Französisch, sondern auch Drama unterrichtet, bestärkt ihn aus anfangs unerklärlichen Gründen darin, seine phantasierte Identität gegenüber der Klasse aufrechtzuerhalten. Als Simon seine Geschichte ins Internet setzt, löst er damit eine Welle heftiger Reaktionen unterschiedlicher Art aus, deren Ausmaß sich weiter steigert, als Simon eingesteht, diese Biografie erfunden zu haben. Immer deutlicher treten im Verlauf des Geschehens die schmerzhaften Punkte seiner eigenen Familiengeschichte zutage. Um seine eigene Identität zu finden, muss Simon sich des mit seiner Familiengeschichte verbundenen mentalen und emotionalen Ballasts entledigen und dabei bestehende kulturelle Stereotype und Vorurteile überwinden. „Indem der Regisseur traditionelle und aktuelle Symbole und Objekte aufgreift,“ so die Begründung unserer Jury, „lädt er uns dazu ein, bestehende Klischees über den Anderen, über das unserer eigenen Kultur und Religion Fremde, neu zu bewerten.“

Der ästhetisch innovativste Beitrag des diesjährigen Wettbewerbs in Cannes war der israelische Film WALTZ WITH BASHIR von Ari Folman (MADE IN ISRAEL, 2001). Es handelt sich um einen Animationsfilm, der auf dokumentarischem Material basiert und stark autobiographische Züge trägt. Die Handlung beginnt damit, dass ein alter Freund Ari, dem Protagonisten, von einem immer wiederkehrenden Alptraum berichtet, in dem er von einem Rudel gefährlich kläffender Hunden verfolgt wird. 26 Hunde sind es, und genau so viele Hunde hatte er als junger Soldat bei einem Kriegseinsatz in Beirut erschießen müssen. Ari und seinen Freund verbindet die gemeinsame Vergangenheit: beide waren sie Anfang der 1980er Jahre als Soldaten im Libanonkrieg eingesetzt, aus dem so viele junge Israelis, sofern sie überlebten, traumatisiert in die israelische Gesellschaft zurückkehrten. Beide haben sie seinerzeit die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila miterlebt. Doch welche Rolle haben sie dabei gespielt? Während der Freund unter Albträumen leidet, sind die Kriegserlebnisse für Ari ein weißer Fleck in seinem Gedächtnis. Um seine Erinnerung wiederzubeleben, macht er sich auf den Weg zu den Freunden von damals und versucht durch Gespräche mühsam der Wahrheit über die Geschehnisse und seine eigene Beteiligung auf die Spur zu kommen. WALTZ WITH BASHIR ist ein Film über schmerzhafte Erinnerungsprozesse und die Konfrontation mit der Wahrheit, dessen politischer Kern darin besteht, dass er die Frage nach der eigenen Verantwortung stellt. Dem Regisseur gelingt es, über die Schrecken des Krieges zu reflektieren und zu zeigen, wie sie über die ganz gewöhnlichen Sehnsüchte der jungen Soldaten triumphieren. Dass er die Zuschauer dabei nicht überwältigt, sondern sie in eine spannende Bilderwelt einlässt, verdankt sich der Animation. Entstanden ist WALTZ WITH BASHIR auf der Basis von Dokumentaraufnahmen, die von den Gesprächen mit den im Film zu sehenden Figuren aufgenommen wurden. Folman hat diese nicht etwa digitalisiert und bearbeitet, sondern sie abzeichnen und durch fiktionale Szenen – wie etwa den Albtraum mit den Hunden – ergänzen lassen. Lebensecht wirken seine animierten Figuren durch detailgetreue Gestik und Mimik. Ein allein in filmästhetischer Hinsicht absolut sehenswerter Film, ist seine Thematik heute, wo in diversen Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt junge Soldaten ihr Leben einsetzen, aktueller und – über ihre innerisraelische Brisanz hinaus - universeller denn je.

Filmisch herausragend war auch der ungarische Wettbewerbsbeitrag DELTA von Kornél Mundruzcó. Er erzählt die Geschichte einer Liebe zwischen einem Bruder und einer Schwester als Parabel über die Intoleranz einer Dorfgemeinde gegen alles von der Norm Abweichende. Man braucht der These des Regisseurs nicht unbedingt zu folgen, wonach die in allen Kulturen tabuisierte Geschwisterliebe die Möglichkeit der Einheit mit dem eigenen Selbst darstelle, um sich von der poetischen Ausdruckskraft dieses Films bezaubern zu lassen. Die eigens für den Film komponierte Musik unterstreicht die visuelle Intensität der Bilder. Komponiert hat die Musik Felix Lajkó, ein begabter Violinist, der wider Willen die Rolle des männlichen Hauptdarstellers übernehmen musste, als nach dem plötzlichen Tod des ursprünglich vorgesehenen Schauspielers das gesamte Filmprojekt gefährdet war. Er spielt einen jungen Mann, der nach langen Jahren der Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, in die unbelassene Naturlandschaft eines Flussdeltas. Eine junge Frau (Orsi Tóth) wird ihm als seine Schwester vorgestellt; von ihrer Existenz hatte er bisher nichts gewusst. In der Fremde zu Geld gekommen, will der wortkarge junge Mann sich nun ein Haus am Flussdelta bauen. Instinktiv beschließt die junge Frau zu dem fremden Bruder zu ziehen. Die Idylle, in die die beiden sich zurückziehen, erscheint wie eine geschützte Gegenwelt zu dem tristen Milieu der Dorfgemeinde, die vor Gewalt und Missbrauch nicht zurückschreckt. Am Ende der Galavorstellung gab es für das Filmteam anhaltenden Applaus. Doch die düstere Geschichte, die der Film erzählt und die wenig Raum für Hoffnung lässt, polarisierte die Cineasten. Die FIPRESCI-Jury hat sich davon jedoch nicht abschrecken lassen und DELTA ihren Hauptpreis verliehen.

Visuell und inszenatorisch eindrucksvoll war auch ÜÇ MAYMUN (THREE MONKEYS), ein Film des türkischen Filmregisseurs Nuri Bilge Ceylan, der vor fünf Jahren mit UZAK (DISTANT, WEIT ENTFERNT) in Cannes einen großen Durchbruch erzielte, war. Der lakonische Film beginnt mit einer Szene im Stil des Film Noir. Auf der nächtlichen Landstraße überfährt der Politiker Servet, der vor Übermüdung kaum noch die Augen offen halten kann, einen Menschen und begeht Fahrerflucht. Um seine politische Karriere nicht zu gefährden, überredet er seinen Chauffeur Eyüp, die Schuld auf sich zu nehmen. Während Eyüp eine neunmonatige Gefängnisstrafe absitzt, beginnt Servet ein Verhältnis mit dessen Frau Hacer (hervorragend in dieser Rolle: Hatice Aslan). Als Eyüps und Hacers fast erwachsener Sohn von der Affäre seiner Mutter erfährt, droht er mit Gewalt. Nachdem der Vater aus dem Gefängnis entlassen wird, verdichtet sich das Geschehen, und das Drama nimmt seinen Lauf. Wie in der Fabel von den drei Affen, die sich weigern, der Wahrheit ins Auge zu sehen, zu hören und zu sprechen, verstricken sich die Figuren immer tiefer in ein Geflecht von Lügen. Für ÜÇ MAYMUN (THREE MONKEYS) erhielt Nuri Bilge Ceylan den Preis für die beste Regie.

Über die hier besprochenen Filme hinaus war im diesjährigen Wettbewerb etliches mehr zu sehen, darunter etwa Matteo Garrones GOMORRA, der einen ungeschönten Blick auf die heutigen Mafiastrukturen und ihre Allgegenwart im Alltagsleben der neapolitanischen Bevölkerung wirft; Paolo Sorrentinos Politsatire IL DIVO über den umstrittenen einstigen Premier der christlich-demokratischen Partei Italiens, Guilio Andreotti; ER SHI SI CHENG JI (24 CITY) des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke (SANXIA HAOREN/STILL LIFE, 2006), der hier in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion die Umwandlung einer volkseigenen Waffenfabrik zu einem Wohnkomplex luxuriöser Eigentumswohnungen und deren Auswirkungen auf die Lebensläufe der dort einst Beschäftigten und ihrer Kinder dokumentiert. Des weiteren lief im Wettbewerb THE PALERMO SHOOTING von Wim Wenders mit Campino, dem Sänger der Toten Hosen in der Hauptrolle und Hollywoodstar Dennis Hopper als leibhaftiger Tod; außerdem LINHA DE PASSE, ein Film des Brasilianers Walter Salles über eine allein erziehende Mutter im Armenviertel von Sao Paolo (gespielt von Sandra Corveloni, die dafür den Preis für die beste Schauspielerin erhielt); Steven Soderberghs Filmepos über Che Guevarra mit Benicio del Toro in der Hauptrolle, der dafür zurecht den Preis für den besten männlichen Hauptdarsteller erhielt; Arnaud Desplechins unzeitgemäße Weihnachtsgeschichte UN CONTE DE NOËL über die zum Teil unbewussten Anziehungs- und Abstoßungskräfte und ihre Auswirkungen auf die individuelle Psyche sowie das Geflecht familiärer Bindungen (mit Catherine Deneuve in der Hauptrolle) oder James Grays charmante, im jüdischen Einwanderermilieu von Brighton Beach (Brooklyn) angesiedeltes romantisches Drama (mit Joaquin Phoenix, Gwyneth Paltrow und Isabella Rossellini). Wer das große Hollywoodkino mag, der wird sicherlich auch Gefallen finden an THE EXCHANGE, Clint Eastwoods gekonnt inszeniertem, auf einem historischen Fall basierendem Drama über eine allein erziehende Mutter (Angelina Jolie) im Los Angeles der 1920er Jahre, die in die Fänge eines korrupten Polizeiapparats gerät, als sie ihren neunjährigen Sohn vermisst meldet. Besonders eindrucksvoll ist John Malkovich, der hier einmal nicht den Bösewicht, sondern einen engagierten presbyterianischen Pfarrer spielt, der um politische Öffentlichkeit und die Kontrolle der Instanzen staatlicher Macht kämpft.

Zum Schluss sei noch das absolute Highlight des diesjährigen Festivals erwähnt, ein kleiner Film mit großem Potential, der in einer Nebenreihe lief: TULPAN  von Sergey Dvortsevoy aus Kasachstan, produziert u.a. von der deutschen Pandora Film, gewann den Hauptpreis der Sektion Un Certain Regard (Präsident der für diese Sektion zuständigen Jury war in diesem Jahr Fatih Akin). In der Inszenierung der Geschichte eines jungen Mannes, der nach Beendigung seines Militärdienstes zu seiner Schwester und deren Mann zieht, die als Nomaden in der kasachischen Steppe leben, mischen sich Fiktion und dokumentarischer Blick auf atemberaubende Weise; der Film entfaltet eine Beschwingtheit wie zugleich eine Intensität, die den Zuschauer mit den elementaren Kräften des Lebens in Berührung bringt.