39. Filmfestival Warschau

Ein Festivalbericht von Christine Ris und Thomas Kroll
The Shadow of Catire

Grand Prix in Warschau 2023: «The Shadow of Catire»

Beim Festival in Warschau standen Anfang Oktober sowohl Europa- als auch Welt-Premieren auf dem Programm. Die Filmauswahl war keine einfache Angelegenheit für die Direktion des Filmfestivals, vielmehr eine Herausforderung angesichts der aktuellen globalen Situation. So wurden etwa mit ausdrücklichem Hinweis im Programmheft keine russischen Filme vorgeführt – angesichts Russlands militärischen Überfalls der Ukraine ein konkretes Zeichen der Solidarität mit Filmschaffenden, ja mit allen Menschen in der Ukraine.

Zehn Jurys mit insgesamt 35 Mitgliedern sichteten Filme aus folgenden Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Israel, Kanada, Kroatien, Libanon, Mexiko, Niederlande, Polen, Rumänien, Schweiz, Slowakei, Spanien, Tschechien, Tunesien, Türkei, Ukraine und Venezuela.

In vielen der Filme war die Gestaltung von Beziehungen das Hauptthema: Mal ging es eher um das Miteinander in Familien – zum Beispiel in «Anxiety» (Polen, Schweiz, Deutschland 2023 / Regie: Sławomir Fabicki) konkret um die Beziehung zweier Schwestern auf der Fahrt von Polen zum assistierten Suizid am Luganersee –, mal stärker um Herausforderungen innerhalb von Nachbarschaft und Freundschaften wie etwa im Roadmovie «I Don’t Love You Anymore» (Tschechien, Polen, Slowakei / Regie: Zdenêk Jiráský), das zwei Teenager, Tereza und Marek, auf einer Reise fernab von den Elternhäusern zeigt, wobei Tereza Marek für ihre Ziele missbraucht und schlussendlich in eine desaströse Situation bringt.

Aufgabe der Ökumenischen wie auch der Internationalen Jury war es, vierzehn Wettbewerbsfilme zu sichten, darunter erwähnenswerte Filme wie zum Beispiel «Song of Goats» (Polen, Griechenland, Irland 2023 / Regie: Andrzej Jakimoswski) – eine cineastische Einladung, einmal Urlaubstage auf der Vulkaninsel Nisyros zu verbringen – und «Black Box» (Deutschland, Belgien 2023 / Regie Azli Özge), ein spezieller Berliner «Heimatfilm», der sich nahezu kammerspielartig den Herausforderungen und Tücken der Gentrifizierung rund um einen Hinterhof am Prenzlauer Berg widmet.
Auffällig: Von bekannten polnischen Regisseurinnen und Regisseuren wie etwa Agnieszka Holland und Małgorzata Szumowska, wie zum Beispiel Paweł Pawlikowski (noch 2013 in Warschau mit »Ida« prämiert) und Jan Komasa waren keinerlei Filme zu sehen bzw. eingereicht worden.


Auf der Liste der Filme, die die Ökumenische Jury durchaus überzeugten und ausgiebig im Hinblick auf die Preisvergabe diskutiert wurden, waren schließlich die folgenden vier zu finden:

«Not a Word» (Deutschland, Frankreich, Slowenien / Regie: Hanna Slak)
Nina, eine erfolgreiche Dirigentin, zieht sich trotz eines anstehenden, wichtigen Konzertes wintertags mit ihrem wortkargen, pubertierenden Sohn für fünf Tage ins Feriendomizil an der Bretagne-Küste zurück, nachdem Lars in der Schule aus dem Fenster gefallen ist. Es steht der Verdacht im Raum, dass dies kein Unfall, mehr noch: dass Lars an der Verbrennung einer befreundeten Schülerin beteiligt war. In rauer Umgebung zeigt der Film Anspruch, Misslingen und Ringen um Kommunikation der beiden Hauptfiguren. Bei all dem spielt Mahlers 5. Symphonie, insbesondere dessen erster Satz «Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz» und der vorangestellte Trauermarsch, eine faszinierende Rolle.


«Crossing» (Belgien, Kroatien, Niederlande 2023 / Regie: Jacqueline van Vugt)
Die Regisseurin und Drehbuchautorin verwebt drei Beziehungsgeschichten miteinander, die allesamt ein tragisches Ende finden, ohne dass eine kleine Spur der Hoffnung ausbleibt. Da ist zum einen eine vierköpfige Familie, die die Fähre von Marokko nach Spanien ebenso zur Überfahrt nutzt wie die Ehefrau und die schwangere Tochter des Kapitäns; da sind zum anderen zwei Rettungssanitäter an der europäischen Küste, von denen der eine endlich wagt, die Frau seines Herzens anzusprechen.


«Take My Breath» (Tunesien 2023 / Regie: Nada Mezni Hafaiedh)
Im Mittelpunkt steht die anfangs als 23-jährige, verliebte Frau wahrgenommene Shams. Sie muss aufgrund von Missverständnissen und Repressalien aus ihrem Heimatdorf fliehen. Medizinische Tests bestätigen sodann eindeutig, dass sie beiderlei Geschlechts ist. Angesichts Shams‘ Überforderung, sich für ein Geschlecht entscheiden zu müssen, und deren Suche nach neuer Identität hält die Familie weiterhin zu ihr. Was Gott so geschaffen habe, sei zu respektieren, lautet die Rede eines Verwandten, bei dem Shams Zuflucht findet, der als Sufi-Gelehrter jedoch nicht bei allen Beteiligten Gehör findet.


«The Last Men» (Frankreich 2023 / Regie: David Oelhoffen)
Dem Regisseur von «Den Menschen so fern» (Frankreich 2014), der sehenswerten Literaturverfilmung von Albert Camus‘ kurzer Erzählung «L’hôte», gelingt, hier zudem als Co-Drehbuchautor gemeinsam mit Jacques Perrin (1941–2022), u.a. Produzent von «Cinema Paradiso» (Italien, Frankreich 1988 / Regie: Giuseppe Tornatore), der kurz nach den Dreharbeiten verstarb, einmal mehr ein eindrucksvolles Werk. Ein spannungsreiches, bewegendes Themenfeld zu Egoismus und Solidarität, Tod und Schuld, Identität und Neugeburt öffnet sich, indem der Film rund zwanzig Männer einer abgelegenen Station der französischen Fremdenlegion gegen Ende des 2. Weltkriegs angesichts der Bedrohungen durch japanisches Militär gut zweihundert Kilometer durch den gefahrvollen Dschungel in Indochina schickt, wobei nur einer der Soldaten überlebt.

Die einmütige Entscheidung der Ökumenischen Jury unter Vorsitz von Christine Ris fiel schließlich, nicht zuletzt aufgrund des positiven Filmfinales, auf «Not a Word».

Ein Spezifikum des Warschauer Filmfestivals sind Zusammenkünfte aller Jurymitglieder, insbesondere bei gemeinsamen Mahlzeiten am Mittag und am Abend. Dadurch wurden cineastische Bereicherungen, inspirierende Einblicke in andere soziale und politische Kulturen sowie emotionale Herausforderungen nicht nur im Kino ermöglicht, sondern auch bei vielen Gesprächen mit Jurorinnen und Juroren aus anderen Ländern, insbesondere aus der Ukraine. Darüber hinaus waren die am letzten Festivaltag in Polen stattfindenden Parlaments- und für die Zukunft der Europäischen Union bedeutsamen Richtungswahlen ein immer wieder bewegendes Thema.

Den mit 100.000 Zloty dotierten Grand Prix des Festivals gewann «La sombra de Catire» (The Shadow of Catire) von Jorge Hernandez Aldana (Venezuela, Mexiko 2023). Ausgezeichnet für die Beste Regie wurde David Oelhoffen mit seinem Film «The Last Men», einen Spezialpreis erhielt «Už tě nemám rád» (I Don't Love You Anymore) von Zdeněk Jiráský (Tschechien/Rumänien/Slovakei 2023).