3. Europäischer John Templeton Filmpreis 1999

"Reise zur Sonne" von Yeşim Ustaoğlu ausgezeichnet
Reise zur Sonne (Yeşim Ustaoğlu)

© trigon-film.org


Der 3. Europäische John Templeton Filmpreis wurde an "Reise zur Sonne" (Güneşe yolculuk) von Yeşim Ustaoğlu (Türkei, Niederlande, Deutschland 1999) verliehen. Die Preisverleihung fand am 13. Februar 2000 im Rahmen eines Gottesdienstes in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche statt. Der Preis ist mit 7.000 CHF dotiert, gestiftet von der John Templeton Foundation. Die Jury für den Preis bestand aus Robin Gurney, Hans Hodel und Karsten Visarius.

Link: FILM DES MONATS Juni 1999: "Reise zur Sonne"

Link: Infos zum Film bei EZEF - Evangelisches Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit

 

Laudatio

Der Film, der mit dem 3. Europäischen John Templeton Film Preis 1999 ausgezeichnet wurde, handelt von Rassismus und den Schwierigkeiten, mit denen Kurden in der Türkei zu kämpfen haben.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Mehmet, ein Neuankömmling in der Stadt. Er freundet sich mit Berzan an, einem Kurden, der auf der Strasse Musikkassetten verkauft. Obwohl Mehmet selbst von der türkischen Westküste stammt, könnte er wegen seiner dunklen Hautfarbe für einen Kurden gehalten werden.

Eines abends, während einer Routinekontrolle der Polizei in einem Bus, wird Mehmet ungerechterweise verhaftet. Eine Woche später ist er wieder auf freiem Fuss, doch gebrandmarkt. Als er zu seinem Zimmer zurückkehrt, stellt er fest, dass auf seine Tür ein rotes X vor gemalt worden ist. Sein verängstigter Zimmergenosse stellt ihn auf die Strasse, und er verliert seine Arbeit. Die Angst, wiederum ein rotes X an seiner Zimmertür zu finden, trübt seine Zukunft. Wieso trägt seine dunkle Haut zu seinen Problemen bei? Als er schliesslich in den Slums von Istanbul landet, lernt Mehmet mehr über die harte Realität des Lebens. Seine Loyalität zu Berzan zwingt ihn schlussendlich dazu. Sich auf eine Reise ostwärts, wuer durch das Land, zu begeben – eine Reise hin zur Sonne.

Der Film ist ein Beispiel für ein politisches Kino. Eingebettet in poetische Bilder ist er getragen von tiefsten Emotionen. Gleichzeitig vermeidet er politisches Clichés. Er wurde 1999 bereits am Internationalen Filmfestival Berlin gezeigt, wo er mit dem „Blauen Engel“ als bester Europäischer Film über ein brennendes zeitgenössisches Problem  und mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet wurde.

 

Predigt zur Preisverleihung

von Hans Werner Dannowski, Hannover
während der 50. Internationalen Filmfestspiele Berlin
am letzten Sonntag nach Epiphanias, 13. Februar 2000
in der St.Matthäuskirche Berlin-Tiergarten

 

„Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte
und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig
von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.
Offenbarung Johannes 1, 17-18

 

Liebe Gemeinde!

 

„Fürchte dich nicht!“ Keine Wendung kommt in der Bibel so häufig vor wie diese. Von den Worten der Engel an die Hirten auf dem Felde bei der Geburt Jesu bis zu den Worten des auferstandenen Herrn, von der Mahnung Jesu an seine Jünger mitten im tobenden Sturm auf dem Boot bis zu den Szenarien des Weltgerichts. Immer wieder dieses „Fürchte dich nicht“. Ganz tief zum Menschen scheint es zu gehören, dass er sich fürchtet. Irgendwann ist jeder und jede von uns dran, dass einen die – grosse oder kleine – Furch packt. Menschen, die furchtlos sind, kommen mir unmenschlich vor. Ganz innen, und in bestimmten Situationen besonders, warten wr, denke ich, alle darauf, dass einer zu uns sagt: Fürchte dich nicht.

Mitten bei den 50. Berliner Filmfestspielen kommt mir unter diesem Gesichtspunkt noch eine andere Idee. Filme sind vielfach Furchtgeschichten. In einem Probehandeln stecken wir die Tiefen und die Grenzen unserer Furcht ab. Von der „Titanic“ bis zum „Schweigen der Lämmer“, oder -  um von den Berliner Preisträgern zu reden, von Askoldovs „Kommissarin“ bis zu „Central do Brasil“ von Walter Salles: Überall die Situationen, in denen man den Atem anhält, was wohl daraus wird. Und auch der Film „Reise zur Sonne“, dessen Regisseurin Yesim Ustaoglu wir nachher den Templeton-Preis überreichen, ist – neben vielem anderen – eine einzige Furchtgeschichte. Meisterhaft ist das aufgebaut, unausweichlich kriecht die Furcht in das Herz hinein. Von dem Kennenlernen der beiden Männer, Mehmet und Berzan, bei der Randale der Fussballfans, bis zur Militärrazzia in dem Bus, der Verhaftung Mehmets, seiner Folterung, der Teilnahme Berzans an der Protestdemonstration der Kurden, seinem Tod. Man beginnt zu ahnen, was das heisst, in einem Land zu leben, in dem für bestimmte Personengruppen und in bestimmten Regionen das Kriegsrecht herrscht. Die Furcht beherrscht das Land.

Was ist das eigentlich: Furcht? Furcht ist, denke ich, die plötzliche Erfahrung von Fremdheit in diesem Leben. Auf einmal bauen sich Mauern auf zwischen mir und den Anderen, zwischen mir und der Umwelt, zwischen mir und dem Leben an sich. Nicht nur, dass ich anscheinend nicht mehr geliebt werde. Mehr noch: Dass ich gehindert werde zu lieben, mich einzufügen, dazu zu gehören, das macht die Tiefe meiner Furcht aus. Da fliesst das Leben dahin in dieser grossen Stadt Istanbul, zwischen Hafen und Häusern, zwischen Wasser und Hügeln, einer Stadt voller Menschen und voller Bewegung. Eine Zeitlang bin ich ein Teil davon. Bin Mensch unter Menschen, schwimme mit in dieser unaufhörlichen Bewegung, die irgendwo einen Anfang hat und irgendwo auch ein Ziel. Auf einmal gibt der Boden nach. Auf einmal bin ich ein Gejagter, lande schuldlos im Gefängnis, wie Mehmet, nur weil ich vielleicht eine dunklere Haut habe als die Anderen und deshalb kurdischer Abstammung sein könnte. Auf einmal verliere ich die Arbeit, die Wohnung, habe die roten Kreuze an der Tür, die den Bewohner als Freiwild deklarieren. Ausgestossen, wie ein anderer berühmter Filmtitel heisst „Odd Man Out“. Furcht ist die Reaktion auf den drohenden Weltverlust, der mit dem Selbstverlust Hand in Hand geht. Und es ist dann nur noch die Frage, ob die Furcht in der Depression endet, die sich mit dem Verlust endgültig identifiziert. Oder ob sie in die Trauer mündet, die den Verlust wahrnimmt, die daran  leidet, manchmal sehr tief leidet. Die aber dann langsam in die Lage kommt, die Todesgeschichten mit Lebensgeschichten zu überwinden.

Fürchte dich nicht! Eben, auf die Gegenbewegung kommt es an, sagt die Stimme des erhöhten Christus, den Johannes in seiner Vision auf der Insel Patmos sieht. Eine Gegenbewegung gegen den Weltverlust und gegen den Selbstverlust und damit gegen die Furcht, und die ist längst im Gang. Weit greift diese Gegenbewegung aus, geht durch die Räume und durch die Zeiten. Hat einen Konzentrationspunkt in der Geschichte des Mannes, um den der christliche Glaube kreist. Mit diesem „Fürchte dich nicht“ ist Jesus von Nazareth durch unsere Welt gegangen. Den Kranken hat er es gesagt und den Traurigen, den Sterbenden und den Sündern. Nicht nur gesagt hat er es, er hat es sie spüren und erleben lassen, dass man sich nicht zu fürchten braucht. „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“. In den Tod ist er damit gegangen, und da war er anscheinend für Augenblicke auch ganz allein. Nein, die Todesgeschichte darf man nicht einfach an die Seite schieben, sonst verdrängt man die Realität von Welterfahrung aus seinem Sinn. Aber die Todesgeschichten mit Lebensgeschichten durchschossen, nein, aufgelichtet sehen, wie es die Auferstehung Jesu sagt: Darum wird es gehen. „Ich war tot und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel  des Todes und der Hölle“. Die Schlüssel des Todes in den Visionen des Lebens in die Hand zu bekommen, das ist der Weg, auf den die Stimme des erhöhten Christus ruft. Und es macht den humanen Rang, ja, die religiöses Kraft des Films von Yesim Ustaoglu aus, das die „Reise zur Sonne“ nicht nur eine Furchtgeschichte und Todesgeschichte ist. Nein, dass er der Erfahrung Worte und Bilder verleiht, dass es noch dieses Andere gibt. Eben dieses: Fürchte dich nicht! Lassen Sie uns gerade die Gegenbewegung an dem Film, dem wir heute den Templeton-Preis verleihen, im Detail studieren.

Ganz klein und verborgen fängt die Gegenbewegung an. Sie beginnt mit dem Unterlassen Dessen, was den Anderen kränken kann. Sie beginnt mit der Aufmerksamkeit für Gesicht und Kleidung, für die Wünsche und Wunden, die der Andere hat und trägt. Die Gegenbewegung gegen die Furcht beginnt mit der Zuneigung und mündet in der Liebe. Eine Liebe ist es, die scheu ist und die langsam wächst. Wie zwischen Mehmet und der körperlich so kleinen und seelisch so grossen Wäscherin Arzu. Wie zwischen dem Türken Mehmet aus der West- und dem Kurden Berzan aus der Ostprovinz. Liebe, das ist die Ausdehnung und Erweiterung der eigenen Welterfahrung auf noch ganz anderen Perspektiven. Liebe, das ist der Weg hinein in einen immer grösseren, in einen nie ganz erreichbaren Horizont. Das Festhalten an der Liebe aber ist die Verteidigung des eigenen Selbst, des eigenen grösseren Horizontes gegen die Zerstörung, die in der Fremdheit über mich hereinbricht. Die mich das Fürchten lehrt. Die Liebe ist stark , vielleicht sogar stärker als der Tod, sagt die Bibel. So macht sich Mehmet mit seinem toten Freund im Sarg auf, mit ihm in seine Heimat an der irakischen Grenze zu ziehen, um ihn dort zu begraben. Welch eine Odyssee: Die Reise mit dem Sarg im gestohlenen Laster, im Bus, im Zug, mit dem Pferdewagen. Eine „Reise zur Sonne“?

Die Identität des Menschen ist in der Sehnsucht, hat ein Psychoanalytiker gesagt. Wenn der  Mensch wirklich Mensch ist, dann ist er zu Hause in der Sehnsucht nach einer Welt, in der die Lebensgeschichten über die Todesgeschichten siegen. Eine Sehnsucht ist es, die der Kern und die Substanz aller Religionen ist. Eine Sehnsucht, die immer wieder genährt und gespeist, die immer wieder übernommen und gelebt werden muss. Die angenommen und praktiziert werden kann und muss, eben in diesem „Fürchte dich nicht!“ da redet der Erste und der Letzte und der Lebendige. Da wird ein Horizont aufgerissen, dass die letzte Wahrheit des Lebens nicht die Verfolgungs-, die Folter- und die Furchtgeschichten sind. Wer wirklich lebt, ist unterwegs zu dieser Wahrheit. Gerade die kleinen Dinge sind wichtig auf diesem Weg. Der kleine und doch grosse Mut. Wie der fremde Soldat im Zug den gefährdeten Mehmet bei der Kontrolle als seinen Freund ausgibt. Oder wie die alte Frau den Busfahrer ausschimpft, der Mehmet mit dem Sarg die Mitfahrt verweigern will. Das sei unislamisch, legt sie los, und als der Sarg oben auf dem Bus ist, zwinkern sich die beiden zu.

So ist wohl wirklich die Reise Mehmets mit dem Sarg Berzans in dessen Heimatdorf eine Reise in  die Sonne. Glutrot steht sie über der Landschaft als Mehmet  gegenüber dem Minarett den Sarg in den Stausee schiebt, der Berzans Dorf verschlungen hat. Mit einer Sehnsucht nach einer Welt sind wir alle unterwegs, in der die Geschichten des Lebens und der Liebe triumphieren. Eben diese Welt, von der Christus redet, für die er gestorben und in die hinein er auferstanden ist. Furchtgeschichten sind viele Filme, die wir auf der Berlinale sehen, das ist wahr. Aber manchmal  sind es auch, wie die „Reise zur Sonne“, Trost- und Hoffnungsgeschichten. Tröstliche Visionen einer Welt, in der dieses Wort über alles andere geht: Fürchte dich nicht!    

Amen.