Berlinale 2005 – Erwachen des politischen Kinos

Bericht von Charles Martig

Die drei aktuellen Brennpunkte Naher Osten, Ruanda und Tschetschenien waren über alle Sektionen hinweg präsent. "Paradise Now" erzählt die Geschichte zweier junger Männer, Khaled und Saïd, die sich der Hamas angeschlossen haben und als Bombenattentäter nach Tel Aviv geschickt werden. Der Regisseur Hany Abu-Assad zeigt das Alltagsleben in Nablus und leuchtet sorgfältig die Lebensbedingungen aus. Hier sind junge Menschen arbeitslos, erniedrigt und in einem Zustand der Isolation gefangen. Es bleiben keine Optionen für die Zukunft. So erscheint zwingend der Nährboden für die Gewalt. Abu-Assad vermeidet jedoch sorgfältig, die Bobenanschläge zu rechtfertigen. Vielmehr zeigt er mehrere Möglichkeiten zum Handeln auf.

Der Krisenherd Ruanda war mit "Hotel Ruanda" und "Sometimes in April" gleich mit zwei prominenten Beiträgen in der offiziellen Auswahl vertreten. Beide thematisieren den Völkermord in Ruanda 1994, finden jedoch ganz unterschiedliche Zugänge: Während "Hotel Ruanda" eine Rettungsgeschichte erzählt, die an Steven Spielbergs "Schindlers Liste" erinnert, wendet sich der Film "Sometimes in April" von Raoul Peck dem Politthriller zu. Ausgehend vom Schicksal zweier Brüder, blendet er aus der Gegenwart zurück ins Jahr 2001 – den Prozessen vor dem internationalen Gerichtshof in Tansania. Diese geben den Blick frei auf die Ereignisse im April 1994. Hier bleibt dem Zuschauer nichts erspart: die Übergriffe der Armee, die Massaker durch Hutu-Milizen, die Leichenberge. Mit Augustin beobachten wir teilnehmend das Schicksal seiner Frau und Kinder. Sein Bruder Honoré arbeitet als Radiojournalist und ist wesentlich an den Hetzkampagnen gegen die Tutsi beteiligt. Der Film zeigt die Komplexität der Ereignisse, insbesondere auch die Rolle der Medien in dem Genozid, der rund einer Million Menschen das Leben kostete.

Mut zum Widerstand

Marc Rothemund, ein junger Regisseur aus Deutschland, bringt mit "Sophie Scholl – Die letzten Tage" ein Kammerspiel auf die Leinwand, das mit seiner Heldin die aktuelle Frage des Widerstands aufnimmt. Aufgrund von Verhörprotokollen, die in den Stasi-Archiven gefunden wurden, hat Fred Breinersdorfer ein Drehbuch verfasst, das sehr genau die schwierige Situation der Widerstandskämpferin ausleuchtet. Sie wird von Julia Jentsch hervorragend interpretiert. Erstmals wird die 21-Jährige auch als Christin gezeigt, die in ihrer Gefängniszelle betet. Ihre Stärke und Kraft bezieht sie aus dem Vertrauen auf einen Gott, der in ihrem sozialen christlichen Umfeld verankert ist. Christlicher Glaube erscheint hier als moralische Vernunft, die sich klar und selbstbewusst äussert. Die ökumenische Jury hat ihren Preis für "Sophie Scholl" mit diesem Glaubensfundament begründet: "Basierend auf einem Drehbuch, das in ausgezeichneter Weise neue historische Quellen einarbeitet, zeigt der Film mit minimalistischer Ästhetik und konsequenter Erzählstrategie die letzten sechs Tage im Leben der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Das Psycho-Duell der glänzenden Schauspieler vermittelt das humane aufgeklärte Denken der jungen Studentin, das im christlichen Glauben wurzelt. Der Film verweist auf einen dialogfähigen, christlichen Standpunkt, der in konsequenter Zivilcourage und im Widerstand gegen totalitäre Denk- und Machtstrukturen seinen Ausdruck findet."

Der Widerstand als Tat eines aufgeklärten Glaubens findet sich auch in Israel. Hier sind es seit zwei Jahren die militärischen Kader, die sich gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete auflehnen. "On the Objection Front" ist eine gut recherchierte Darstellung der Widerstands-Bewegung von jungen Männern, die sich aufgrund der Erlebnisse bei Einsätzen in den besetzten Gebieten klar gegen eine Mittäterschaft wenden. In Interviews ist hier von Menschenrechtsverletzungen und Folterungen die Rede. Shiri Tsur zeigt, welches humane Ethos aus der jüdischen Religion erwächst und wie junge Erwachsene damit ihre Verweigerung begründen. Mit dem Hinweis auf die Gründungsvision von Ben Gurion beginnt und endet der Film. Der Sinn dieser Worte wendet sich im Laufe dieser aufschlussreichen Stunde vollständig. Die persönlichen Entscheidungen zum Widerstand haben in der israelischen Gesellschaft politische Wellen geworfen, die nicht mehr zu übersehen sind. Der Film gewann den Preis der ökumenischen Jury in der Sektion Forum.

Völkermord dokumentieren

Der Schweizer Eric Bergkraut hat sich einer starken Frauengestalt angenommen: Er erzählt von Sainap Gaschaiewa, die seit 1994 dokumentiert, was in ihrer Heimat Tschetschenien geschieht: Verschleppung, Folter, Mord. Der Film stellt auch einen Bezug zur Schweiz her. Gaschaiewa, "die Taube" genannt, versucht hunderte von Videoaufnahmen und Fotos mit Menschenrechtsverletzungen in den Westen zu bringen und möchte die internationale Gemeinschaft damit konfrontieren. Sie hofft, dass es zu einem Tribunal kommt und die Schuldigen bestraft werden. Doch die politischen Verhältnisse sind äusserst schwer zu durchbrechen. Der Justizminister der russischen Föderation bringt den Konflikt auf die Formel "Internationaler Terrorismus". Der Film "Coca – Die Taube aus Tschetschenien" versucht sorgfältig aufzuweisen, dass es sich um einen Völkermord handelt, der durch die Kolonialmacht Russland ausgeführt wird. Daneben steht spiegelverkehrt der deutsche Beitrag "Weisse Raben – Alptraum Tschetschenien", der die Verletzungen und psychischen Traumata der russischen Soldaten zeigt, die in den Tschetschenien-Krieg zogen. Stellenweise zu suggestiv wirkt Tamara Trampe in ihrer Rolle als Interviewerin: Ihre jungen Interviewpartner sind sprachlos oder wollen die Erlebnisse weitgehend verdrängen. Auch sie sind Opfer des Krieges.

Ein eindrückliches Beispiel von Trauerarbeit ist "Waiting for the Clouds" (Bulutlari beklerken) der türkischen Regisseurin Yesim Ustaoglu. Bekannt wurde sie in Europa durch den Spielfilm "Reise zur Sonne", der sich mit der Kurdenproblematik auseinander setzt. In ihrem neuen Werk wendet sie sich der traurigen Geschichte der griechischen Minderheit in der Türkei zu. Durch die Geschichte von Ayshe im Fischerdorf Trebolu erfahren wir von einer fast vergessenen Episode des Ersten Weltkrieges. Im Verlauf der Feindseligkeiten zwischen der osmanischen und der russischen Armee kam es zu ethnischen "Säuberungen" und häufig tödlich endenden Deportationen. Nur indem Ayshe, die damals Eleni hiess, Schuld auf sich lud, konnte sie sich diesen entziehen. "Waiting for the Clouds" ist ein unendlich trauriger Film, der mit seiner historischen Tiefenschärfe ein Beispiel für die Bewältigung kollektiver Schuld darstellt.