Berlinale 2009 – Wertedebatte im internationalen Kino

Festivalbericht von Charles Martig, Präsident der Ökumenischen Jury

Die durch Globalisierung und Mobilität in Frage gestellte Kleinfamilie stellt sich als nachhaltiges Problem dar. Im internationalen Kino findet deshalb eine Debatte statt über die Rettung der traditionellen Familienwerte, oder vielmehr über die Neuformulierung dieser Werte. In “Mammoth – Mammut“ ist es die Situation eines gutsituierten Ehepaares, das sich in der Karriere soweit installiert hat, dass ein geregeltes Familienleben nicht mehr stattfinden kann. Als Ersatz muss eine philippinische Nanny das Mädchen hüten, eine Frau die selbst zwei Kinder zu hause hat, die sie für den Verdienst verlassen musste.

Dass auch im iranischen Film solche Verwerfungen im Mittelstand bestehen, zeigt „Darbareye Elly“. Eine junge Frau, Elly, wird während eines Wochenendes am Kaspischen Meer plötzlich vermisst. Angesichts der Krise fallen die versammelten Verwandten in traditionelle Familienmuster zurück, die sie bereits überwunden glaubten. Asghar Farhadi zeigt einen Konflikt zwischen modernen Lebensformen und traditionellen Familienwerten. In "London River" suchen eine englische Mutter und ein aus Afrika stammender muslimischer Vater ihre Kinder nach dem Londoner Bombenattentat 2005. Sie begegnen sich erst, als sich herausstellt, dass ihre beiden Kinder in einer Partnerschaft lebten, von der sie als Eltern nichts wussten. Erst die Abwesenheit der verschollenen Kindern führt zur Einsicht, dass ein Dialog über die Grenzen von Kultur und Religion hinaus notwendig ist.

Kriegstraumata gespiegelt

Es ist bekannt, dass die Kriege im Irak oder in Afghanistan seine Opfer auch in den westlichen Gesellschaften produziert. In „Little Soldier“ ist es Lotte, eine dänische Frau, die nach einem Auslandeinsatz zurückkehrt. Körperlich und seelisch hat sie Wunden davongetragen. Auf der Suche nach Arbeit findet sie Unterschlupf bei ihrem Vater. Er heuert Lotte als Fahrerin für ein Callgirl an. Dass der Vater ein Bordell betreibt und sein Geld mit Menschenhandel verdient, interessiert die Soldatin vorerst nicht. Erst als sie das Callgirl Lilly besser kennen lernt und sich mit gewalttätigen Freiern konfrontiert sieht, ergreift sie die Initiative. Sie versucht die Prostituierte zu befreien. Ein direkter Konflikt mit ihrem Vater bahnt sich an. Besonders sehenswert macht den Film, dass hier das Schicksal einer Frau mit Kriegserfahrung gezeigt wird. Üblicherweise sind es Männer, die in solchen Ausgangslagen im Kino gezeigt werden. Im amerikanischen Film „The Messenger“ bekommt ein Kriegsrückkehrer die Aufgabe, bei Todesfällen in der US-Armee die nächsten Verwandten zu kontaktieren. Die persönlich überbrachten Botschaften verändern den Soldaten Will nachhaltig. Er erlebt, wie viel Leid der Krieg im eigenen Land auslöst und wie seine eigenen Beziehungen zerbrechen. Nur mit Hilfe seines Vorgesetzten und der regelmässigen Konfrontation mit dem Leiden der Familien kann er sich für ein neues Leben öffnen.

In direkter Verbindung  zu diesen „Kriegsrückkehrer-Filmen“ ist auch der peruanische Film „La teta asustada – Milch des Leidens“ von Claudia Llosa zu sehen. Hier ist es eine junge Frau, die von ihrer Mutter das Schicksal der Vergewaltigung erbt. Die Zeit des terroristischen Kampfes ist vorbei. In Fausta lebt jedoch die Angst weiter und hat ihre Seele geraubt. Doch dieser Alltag der geraubten Seele wird vom Tod der betagten Mutter durchkreuzt. Faustas Leben verändert sich einschneidend. Für sie beginnt eine Reise aus der Furcht in die Freiheit. In der Gestaltung des Filmes sind es die Metapher der „vergifteten Muttermilch“ sowie die melancholischen Gesänge in der Indio-Sprache, die Empathie wecken und überzeugen. Der Gegensatz zwischen Leben und Tod ist im Film vielfach präsent und gibt dem Leiden des Opfers einen weiten Resonanzboden. „La teta asustada“ wurde unter anderem mit Beiteiligung des Schweizer Fonds „Visions Sud Est“ finanziert und kommt dank dem Verleiher Trigon-Film im kommenden Winter in die Schweizer Kinos.

Die Reise zur Loslösung vom Trauma treten auch Frauen in Europa an, die im Bosnienkrieg vergewaltigt wurden. In „Sturm“ von Hans-Christian Schmid ist es eine Anwältin, Hannah Maynard, die am Kriegverbrechertribunal in Den Haag einen Prozess gegen Goran Duric führt. Sie entdeckt, dass der Angeklagte bei systematischer Vergewaltigung im Krieg federführend war. Auf Ihrer Suche nach Zeuginnen versucht sie die junge Bosnierin Mira davon zu überzeugen, am Gericht auszusagen. Als Frau stösst sie dabei auf grosse Hindernisse. Die politischen Hindernisse scheinen unüberwindbar und nur mit grösster Anstrengung gelingt es, den Fall auf den neuen Tatbestand auszuweiten. Das Schicksal von Frauen in Kriegssituationen ist vor allem auch eine ethische Reflexion über den Sinn und Zweck des Tribunals in Den Haag.


Migration und Nächstenliebe

Die zunehmenden Migrationsbewegungen fordern vor allem die wohlhabenden Gesellschaften heraus, ihre Haltung neu zu bedenken. So ist es nicht erstaunlich, dass dieses Thema in aktuellen Filmen aufgegriffen wird. Im französischen Film „Welcome“ von Philippe Lioret ist es der 17jährige Bilal, der aus dem Irak bis nach Calais gereist ist, um zu seiner Geliebten nach England zu gelangen. Doch hier am Ärmelkanal ist für ihn Endstation. Die Lastwagen und Schiffscontainer werden aufs genauste geprüft. Immigranten werden zurückgehalten und in Calais in Asylzentren eingepfercht. Der Kanal scheint unüberwindbar. In einem öffentlichen Bad begegnet Bilal dem Schwimmlehrer Simon, der sich gerade in Scheidung befindet. Er nimmt Bilal auf und gibt ihm Unterricht. In vielschichtiger Weise thematisiert der Film, den Wert der Nächstenliebe, die Bedeutung von Liebe in der Beziehung und die Verpflichtung in einer möglichen Vater-Sohn-Beziehung.

Charles Martig, Filmbeauftragter Katholischer Mediendienst

Interview Radio Vatikan mit Charles Martig: http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=266092

http://www.trigon-film.ch/de/ (Verleih: „La teta asustada“, Goldener Bär)