Bericht von Dorothea Schmitt-Hollstein

Grosses lnteresse für den deutschen Nachwuchs

Till Noever hatte damit gerechnet, morgens um 9 Uhr bei der Begrüßung zu seinem Kurzspielfilm Ein ganz normaler Tag, einer amüsanten Taschendieb-Verwechslungsstory, vor leeren Sesseln zu stehen. lm größten Festivalkino von Montréal, dem opernhausähnlichen "lmpérial", war indes kein Platz mehr frei. Ein erwartungsvolles Publikum bedankte sich artig für seinen hoffnungsvollen Filmerstling, um dann, nicht minder freundlich, Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag Die Polizistin aufzunehmen. Filmfreunde hatten zudem in einem der anderen nahen Kinos viermal Gelegenheit, auch seinen wunderbaren ersten Spielfilm Nachtgestalten kennen zu lernen.

Während Venedig zur gleichen Zeit deutschen Regisseuren die kalte Schulter zeigte, nahm das im Rang vergleichbare frankokanadische "Welt-Festival", zudem das einzige mit A-Status auf dem nordamerikanischen Kontinent, nicht weniger als 30 deutsche Filme ins Programm - ein Rekord. Beim Goldregen ging allerdings, nicht ganz zu Unrecht, auch Dresens Konkurrent Roland Suso mit Eine Handvoll Gras leer aus. Nach einem Auftakt, der wie bei Dresens Nachtgestalten abgekupfert scheint, stellt er einen kleinen Kurdenjungen, der in Hamburg von Dealern als Drogenbote missbraucht wird, beim Showdown vor die Entscheidung zwischen falscher Familienehre und Solidarität mit einem hilfsbereiten Expolizisten (Oliver Korritke). Die Fülle der Probleme erstickt jedoch die Spannung, und der Schluss kommt viel zu spät.

Dresen hingegen scheitert an seiner wenig überzeugenden Geschichte, die allzu deutlich das Ansehen der ostdeutschen Polizei aufpolieren möchte: Seine Polizistin (Gabriela Maria Schmeide) verheddert sich bei ihrer Arbeit als Anfängerin auf einem Rostocker Revier hoffnungslos in ihren Gefühlen, im Gegensatz zu ihren Macho-Kollegen, was den sicher unbeabsichtigten Schluss nahelegt, Frauen taugten eben doch nicht für diesen Beruf. Der Kanadier Bruce Spangler behandelt das Thema in seinem Filmerstling Protection sehr viel gründlicher; er macht hinter der Überforderung der Frau, hier einer Sozialarbeiterin, sichtbar, dass die Vorgaben der Gesellschaft zur Problemlösung wenig taugen.

Ehrung für Volker Schloendorff

Volker Schloendorff, der eine besondere Ehrung für die Babelsberg Studios entgegen nahm, stieß mit seinen Legends of Rita (deutscher Titel: Die Stille nach dem Schuss) eher auf Zurückhaltung. Die Probleme der Terroristin lnge Viett, die der Regisseur als eine "Tochter der Katharina Blum" betrachtet, berührten die Zuschauer weniger - die kanadischen Medien haben das Thema RAF längst abgehakt. Ausführlich berichtet die Presse hingegen über die rassistischen Übergriffe in Deutschland. Das war zwar für diesmal noch kein Filmthema, aber wie die normalen Menschen leben im wiedervereinigten Land, das möchten Zuschauer, die sich keinen weiten Flug leisten können, schon wissen.

So avancierte der in Babelsberg entstandene Spielfilm Sumo Bruno des hochbegabten Filmneulings Lenard Fritz Krankwikel aus Hannover zum Publikumsliebling. Die gut erfundene skurrile Geschichte vom arbeits- und mittellosen Zwei-Zentner-Mann, der sich nur sehr widerstrebend von seinen Freunden für einen internationalen Wettkampf im sächsischen Riesa zum Sumo-Ringer aufbauen lässt, ist mit Witz und zugleich bemerkenswertem Takt ins Bild gesetzt.

Lehrstück über feine Nationalitätenunterschiede

Dass ein Gutteil der unter deutscher Flagge laufenden Filme in Koproduktion von Regisseuren anderer Herkunft gedreht worden ist, gilt im multikulturell bunt gemischten Kanada als Zeichen von Normalität. Ein Lehrstück über feine Nationalitätenunterschiede im Denken wie in der Realität des Alltags bot dabei der österreichische Film Geboren in Absurdistan. Die von dem gebürtigen lraner Houchang Allahyari mit Wiener Charme und schlitzohrigem Humor inszenierte Komödie um ein Beamtenbaby, das mit einem Türkenkind vertauscht und mit dessen Eltern abgeschoben worden ist, wäre auf deutschem Terrain (leider) nicht vorstellbar.

Preis der Oekumenischen Jury

Die verlorenen, vernachlässigten Kinder standen auch in Filmen anderer Länder im Mittelpunkt. Die ökumenische Jury traf eine gute Wahl, als sie aus einer Fülle von geeigneten Angeboten das etwas langatmige, aber liebenswerte Werk des in Paris geborenen Marokkaners Nabil Ayouch auszeichnete. ln Ali Zaoua bemühen sich Straßenkinder in Casablanca ohne Geld, aber mit unerschöpflichem Erfindungsreichtum, einem Kameraden, der wie ein Hund getötet worden ist, eine Bestattung "wie einem Prinzen" zukommen zu lassen.

Von Montréal nach Toronto

Elf Tage lang lebte Montréal im Filmrausch. Aus dem ganzen Land kamen die Leute, nicht nur Cinéasten. Ganz normale Kinogänger opferten ihren Urlaub, um beim Festival die neuesten uabhängig produzierten Filme aus aller Welt im Original zu sehen. Sie strömten zu den öffentlichen Pressekonferenzen mit Regisseuren und Mitwirkenden im Foyer des riesigen Einkaufszentrums "Complexe Desjardins" oder verfolgen die Übertragung draußen auf Bildschirmen. Bis in die Nacht hinein belagerten sie mit Kind und Kegel zu Hunderten das Areal rund um die gesperrte Hauptstraße, um sich die Kinohits des zusätzlichen Open-Air-Programms gratis "reinzuziehen". 

Besonders ausdauernde Filmfreunde reisten anschließend zur Konkurrenz ins englischsprachige Toronto weiter, wo Hollywood und die großen Filmfirmen ihre Stars präsentieren, ohne Wettbewerb, aber zum Leidwesen von Montréal mit viel Geld, Glanz und Glamour. Wenn ein so angesehener Regisseur aus Québéc wie Denys Arcand (Jesus von Montréal) seinen neuen Film Stardom lieber dort erstaufführt, verletzt das den Nationalstolz der Frankokanadier tief.

Es ist das große Plus, aber auch die Achillesferse des "Festival des Films du Monde", dass es neben Prominenten wie etwa Claude Chabrol und Liv Ullmann den noch namenlosen Filmemachern eine Bühne gibt. Nicht selten starten sie wie Tom Tykwer mit Lola rennt von hier aus zum Erfolg. Nicht alles, aber vieles aus dem diesjährigen Programm von Montréal würde das deutsche Kinoprogramm sehr bereichern.