Cannes 2011 - Spekulationen über den Preis der Ökumenischen Jury

Anmerkungen zu ausgewählten Filmen. Von Françoise Lods, Paris

Die Tatsache, dass im diesjährigen Wettbewerb unter den zahlreichen renommierten Regisseuren auch solche waren, die in Cannes (oder anderswo) von der Ökumenischen Jury schon mit einem Preis ausgezeichnet worden sind, gab verständlicherweise Anlass zu einigen Spekulationen. Alain Cavalier zum Beispiel, der mit Pater im Wettbewerb war, hatte 1986 für Thérèse eine Lobende Erwähnung und 1993 für Libera Me den Preis der Ökumenischen Jury erhalten, Jean-Pierre und Luc Dardenne, jetzt mit Le Gamin Au Vélo im Wettbewerb, erhielten 1999 eine Lobende Erwähnung für Rosetta, Pedro Almodóvar im Wettbewerb mit La Piel Que Habito, erhielt 1999 den Preis für Todo sobre mi madre, und schliesslich ist auch Aki Kaurismäki ein früherer Preisträger der Ökumenischen Jury von Cannes, jetzt mit Le Havre im Wettbewerb war. Er erhielt 1996 eine Lobende Erwähnung für Drifting Clouds und 2002 den Preis für A Man Without A Past. Man durfte also auch als Mitglied der Ökumenischen Jury gespannt sein auf die Wettbewerbsfilme dieser früheren Preisträger. Als aber nach der Hälfte des Programms die Presse bereits über mögliche Preisträger spekulierte und der Ökumenischen Jury den mit grossem Interesse erwarteten Film The Tree of Life von Terrence Malick empfahl, war klar, dass deren Entscheidung alle Spekulationen Lügen strafen und eine Überraschung werden würde.

Enttäuschte Erwartungen

Der diesjährige Preisträger der Palme d’Or konnte trotz aller gut gemeinten Spekulationen eindeutig nicht auch den Preis der Ökumenischen Jury erhalten. Malick thematisiert zwar eine Reihe interessanter metaphysischer Fragen (woher kommt das Übel, wie kann man den Tod eines Kindes akzeptieren, wie sollte die Beziehung eines Vaters zum Sohn aussehen?), aber alle Antworten geraten zu bevormundenden Klischees, die dem Zuschauer keine Möglichkeit zu eigener Interpretation lassen. Zwar bemüht sich die Inszenierung, die Entstehung des Kosmos und den Ursprung des Menschen in grossartigen Bildern darzustellen, aber sie bleibt prätentiös und überzeugt nicht. Vollends ärgerlich ist die Tonspur mit einer Musik, die einem best of von allen möglichen Melodien, süssen „himmlischen“ Chören oder pompös donnernden Klängen gleich kommt. Kurz gesagt: Der lärmende kosmisch-mystische-Romantismus dieses Films hat mich sehr geärgert!

Die überraschende Entdeckung

Dagegen war der schöne Film This must be the place von Paolo Sorrentino eine überraschende Entdeckung und überzeugender Preisträger der ökumenischen Jury, ein interessantes, förmlich klassisches Drama, das sowohl an die Emotion der Zuschauer appelliert und zugleich bedeutende Fragen stellt. Im Mittelpunkt steht mit dem in Irland lebenden früheren Rockstar, namens Cheyenne (Sean Penn), eine beinahe 50jährige tragische Figur. Cheyenne ist der Meinung und davon überzeugt, dass sein Vater ihn, den geschminkten Rocker, nie geliebt hat. Dann bringt ihn der Tod des Vaters, den er seit 35 Jahren nicht mehr gesehen hat, nach New-York zurück. Erst dort kommt er der schmerzlichen Lebensgeschichte seines Vaters auf die Spur: Zeit seines Lebens hatte er sein Schicksal als Jude in KZ-Haft verschwiegen. Nun reift Cheyenne auf der langen Suche nach dem Folterer seines Vaters zum Mann. Er erfährt viel über seine Wurzeln, über Rache und Verzeihung, über Versöhnung, Hoffnung und Liebe. "Dein Vater liebte dich," behauptet der alte Mordechaï, "er hat es mir gesagt". Von jetzt an kann Cheyenne seine Schminke und seine schwarzen Kleider ablegen und darf in der Gesellschaft der Menschen Platz nehmen.

Zwei lobende Erwähnungen

Eine lobende Erwähnung bekam der sozialpoetische Film Le Havre von Aki Kaurismäki. Der Film ist wie eine Parabel, die uns an die Seligpreisungen aus der Bergpredigt erinnert. Wie immer zeigt uns Kaurismäki die Welt der armen Leute, der Unterschicht. Aber er verzaubert diese Welt durch die Magie der Farben. Die Geschichte spielt im alten Hafen Le Havre. Marcel Marx (André Wilms), ein früherer Schriftsteller, hat beschlossen, sein Leben anders zu gestalten. Er arbeitet nun als Schuhputzer auf der Strasse, lebt friedlich in seinem Viertel mit seiner Frau Arletty (Kati Outinen), seiner Hündin Laïka, seinen Nachbarn. Aber dann wird alles chaotisch Die schwer kranke Arletty wird plötzlich ins Krankenhaus gebracht, während die Polizei auf der Suche nach einem illegal eingewanderten afrikanischen Jungen durch die ganze Stadt läuft. Der junge Idrissa möchte sich heimlich nach England einschiffen. Marcel Marx bringt ihm seine Hilfe und Idrissa wird der Polizei entfliehen. Arletty wird wieder gesund. Der Film klingt wie ein Versprechen: Eines Tages werden die Menschen einander helfen, eines Tages werden die Ausländer Schutz und Hilfe bekommen, eines Tages wird das Leben über den Tod siegen… Fast scheint es, als glaube Kaurismäki an Wunder.

Eine zweite lobende Erwähnung vergab die ökumenische Jury der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki für ihren zweiten Langspielfilm Et maintenant on va où?, der in der Sektion "Un Certain Regard" lief. Sie erzählt eine märchenhafte Geschichte. Zwischen Komödie und Tragödie gelingt es ihr, eine poetische Fabel zu inszenieren, die an unsere Emotion appelliert und zugleich das ernste Problem der religiösen Konflikte im Mittleren Osten behandelt. Die Frauen eines kleinen Dorfes in diesem Teil der Welt werden eine originale Lösung finden, um den tödlichen Angriffen zwischen den Christen und den Muslimen ein Ende zu setzen. Der Film ist phasenweise sehr unterhaltend, aber langsam spürt der Zuschauer den Ernst der Lage. Die letzte Szene, vor dem Friedhof mit dem Gräberfeld für Christen auf der einen Seite und dem Gräberfeld für Muslims auf der anderen Seite, erklärt tragisch-komisch den Titel: Et maintenant on va où? Und jetzt, wohin?

Ein zweifelnder Papst?

Habemus papam von Nanni Moretti ist trotz seines ernsthaften Themas eine Art Komödie, die immer wieder zum Lachen Anlass gibt. Keine Spur von Polemik, kein Antiklerikalismus, dagegen ein echt menschlicher Blick auf die Schwäche des Menschen, sollte er der Papst selber sein (Michel Piccoli). Durch eine theatralische Inszenierung (einerseits die lange Prozession der Kardinale, die feierlich ins Konklave treten, anderseits Schauspieler auf einer römischen Bühne) macht Moretti dem Zuschauer bewusst, dass Macht und Theater viel gemeinsam haben; immer handelt es sich ja darum, eine Rolle zu spielen. Der neu gewählte Papst reagiert völlig unerwartet auf die Würde, die ihm gerade verliehen wurde. Er lehnt sie ab und sagt nein, fühlt sich für die schwere Verantwortung überhaupt nicht stark genug. Heimlich verlässt er den Vatikan und begibt sich unter die Menschen auf der Strasse. Dabei wird ihm bewusst, wie sehr sich die Welt verändert hat, nicht aber die Kirche, auch die Gläubigen nicht, die auf dem Sankt Peter Platz darauf warten, dass sich der neu gewählte Papst nach dem traditionellen Ritual auf den Balkon zeigt und segnend die Hände ausbreitet. Die Musik unterstreicht die Thesen des Films; das wunderschöne argentinische Chanson Alles ändert sich scheint die Kardinäle zum Tanz einzuladen, während das rührende Miserere von Arvo Pärt das innere Gebet eines Menschen vor seinem Gott ausdrückt.

Ein bemerkenswertes Nebenprogramm

Vier bis manchmal fünf Filme aus dem Wettbewerb und in der Sektion "Un Certain Regard" hatten die Mitglieder der Ökumenischen Jury täglich zu sehen. Dazu nahmen sie an Begegnungen an dem im Filmmarkt eingerichteten Stand teil und stellten sich vereinzelt der Presse für Interviews zur Verfügung. Dazu kam die Teilnahme an Gottesdiensten, am ersten Sonntag konfessionell getrennt in einer Messe und in einem protestantischen Gottesdienst, wobei sich Gottesdienstbesucher, Cinéphile und Jurymitglieder anschliessend auf einer für den Verkehr gesperrten Strasse zu einem ökumenischen "Verre d’amitié" trafen; am Mittwoch dann in der anglikanische Kirche zu einem ökumenischen Gottesdienst. Die Jury vom Stadtpräsidenten von Cannes zu einem Apéro empfangen und schliesslich war auch sie einmal (natürlich im vorgeschriebenen Tenue de Soirée oder Anzug bzw. Smoking) zu einer Galavorstellung im Lichtersaal mit dem damit verbundenen "Montée des marches" eingeladen, was als Ausdruck der offiziellen Anerkennung und Wertschätzung durch das Festival gilt. Dass bei der zusammen mit Fipresci durchgeführten Preisverleihung schliesslich auch der Direktor des Festival Pierre Frémaux das Wort ergriff, wurde mit besonderer Aufmerksamkeit vermerkt.