Venedig 2023 (2)

Festivalbericht von Peter Paul Huth


Flucht und Migration

Mit „Green Border“ (Zielona Granica/Grüne Grenze) präsentierte Agnieszka Holland den vielleicht besten Film des Festivals. Mit dokumentarischer Genauigkeit rekonstruiert die polnische Regisseurin die Situation an der belarussisch-polnischen Grenze als im Herbst 2021der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko Flüchtlinge aus der Türkei benutzt, um Druck auf die EU auszuüben. Der Film beginnt mit der Geschichte einer Familie aus Syrien und einer Englischlehrerin aus Afghanistan, die von belarussischen Truppen über die Grenze nach Polen geschickt und von dort wieder zurückjagt werden. Es ist kalt und nass, die Flüchtlinge haben nichts zu essen und keine Orientierung, sie wissen nicht, wo sie Zuflucht finden können. Das Thema ist durch den Krieg in der Ukraine aus den Schlagzeilen verschwunden, aber die Situation an der Grenze ist nach wie vor katastrophal. „Green Border“ ist ein erschütternder Film, der lange nachwirkt.

Agnieszka Holland beschränkt sich nicht auf die Perspektive der Flüchtlinge, sondern zeigt auch die Sicht der Grenzpolizei und einen Polizisten, der mit Skrupeln kämpft. Dazu kommt die Perspektive der Aktivisten, die unter hohem persönlichem Risiko den Flüchtlingen helfen. Besonders eindringlich ist die Figur der Therapeutin Julia, die ihr Haus für die Flüchtlinge öffnet und schließlich verhaftet wird. Sie wird zum moralischen Zentrum des Films. Großartig gespielt von Maja Ostazewska, die, sich auch persönlich bei der Unterstützung für die Flüchtlinge engagiert. Agnieszka Holland verwies auf den „epischen Ansatz“ des Films verbunden mit der Absicht „unterschiedliche Perspektiven zu zeigen, um denen eine Stimme zu geben, die selbst keine haben“. Die Regisseurin fordert, „dass Filme sich mit der komplexen und konflikthaften Realität von heute beschäftigen sollten“. Denn Europa verliere seine moralische Identität, „wann man Mauern baut und so mit Flüchtlingen umgeht.“


Um Flucht geht es auch in Matteo Garrones „Io Capitano“. Auch hier ein episches Thema, die Reise zweier Jugendlicher, Seydou und Moussa, aus ihrem Dorf im Senegal nach Europa. Sie träumen davon, mit ihrer Musik dort zu Stars zu werden. Mit ihren Augen erleben wir den lebensgefährlichen Weg über Niger durch die Sahara. In Libyen landen sie einem der berüchtigten Flüchtlingsgefängnisse, werden gequält und gefoltert. Seydou wird als Sklave verkauft, kommt aber dank glücklicher Umstände wieder frei und schafft es nach Tripolis, wo er seinen verletzten Freund Moussa wiederfindet. Es gelingt ihm schließlich, ein Boot aufzutreiben, mit dem sie nach Italien übersetzen können. Doch nur unter der Bedingung, dass er das Boot selbst steuert. Trotz seiner Unerfahrenheit schafft Seydou es, alle Flüchtlinge sicher nach Italien zu bringen. „Io Capitano“ ruft er am Ziel voller Stolz.

Basis des Films waren die Erfahrungen senegalesischer Flüchtlinge, der als Berater am Projekt mitgearbeitet haben. Wie bei einer klassischen Heldenreise bricht Seydou in eine unbekannte Welt auf, meistert alle Gefahren und gelangt reifer und erfahrener ans Ziel. Die beiden Laiendarsteller aus Senegal, die ihr Land noch nie verlassen hatten, kannten das Drehbuch nicht, um sie möglichst authentisch auf die Stationen ihrer Reise reagieren zu lassen. Die Schwäche des Films liegt darin, dass er in dem Moment abbricht, wo das Flüchtlingsboot Italien. Hätte Garrone die Geschichte weitererzählt, wäre das Ende ziemlich deprimierend ausgefallen.

Große Männer

„Maestro“ gehörte zu den Filmen, die auf dem Lido mit besonderer Spannung erwartet wurden. Vor 4 Jahren hatte Bradley Cooper mit seinem Regiedebüt „A Star is Born“ in Venedig einen starken Eindruck hinterlassen. Jetzt war er mit der Biographie des großen amerikanischen Dirigenten und Komponisten Leonhard Bernstein in den Wettbewerb eingeladen. „Maestro“ ist in zwei Kapitel aufgeteilt, das erste zeigt in schwarz/weiß den jungen Bernstein. 1943 erreicht ihn ein Anruf, ob er kurzfristig für den erkrankten Bruno Walter einspringen und das New York Philharmonic Orchestra dirigieren könne. Das Konzert wird live im Radio übertragen und ein riesiger Erfolg. Es markiert den Beginn von Bernsteins internationaler Karriere. Vorher hatte ihm ein jüdischer Freund geraten, seinen Namen zu ändern, denn ein „Bernstein“ werde in den USA nie ein Orchester leiten.


Bradley Cooper spielt selbst die Titelfigur, der er mit Hilfe einer Nasenprothese verblüffend ähnlich sieht. Im Zentrum des Films steht Bernsteins Beziehung zu der chilenischen Schauspielerin Felicia Montealegre, die er 1951 heiratet. Faszinierend ist besonders die erste Hälfte, die Bernsteins frühe Jahre behandelt.  Seine homosexuellen Beziehungen und die Liebesgeschichte mit seiner späteren Frau werden temporeich erzählt und durch eine elegante Montage miteinander verbunden. „Maestro“ konzentriert sich auf den privaten Bernstein, seine drei Kinder und die Trennung von seiner Frau angesichts seiner homosexuellen Affären. Carey Mulligans Portrait einer selbstbewussten Frau, die ihre eigene Karriere zugunsten ihres Mannes zurückstellt, ist grandios wie auch Bradley Coopers Interpretation des charismatischen Musikers.


Ähnlich gespannt waren die Erwartungen an Michael Manns Biopic des legendären Autobauers Enzo Ferrari. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ein italienischer Regisseur die Biographie legendären Autobauers verfilmt hätte. Bei „Ferrari“ stimmt bis auf die rasant gefilmten Rennszenen gar nichts. Adam Driver spielt den ehemaligen Rennfahrer und Firmengründer aus Modena, was per se schon absurd ist. Hier wiederholt sich das Muster von Ridley Scotts Mode-Drama „The House of Gucci“. Amerikanische Schauspieler verkörpern italienische Charaktere und sprechen mit pseudo-italienischem Akzent, was die Filme von vorneherein unglaubwürdig und auf die Dauer lächerlich macht. Beide basieren auf Biographien amerikanischer Autoren, in diesem Fall auf „Enzo Ferrari: The Man and the Machine“ von Brock Yates. Adam Driver agiert als autoritärer, schlecht gelaunter Familienpatriarch, der ein Doppelleben mit einer Geliebten und einem gemeinsamen Sohn führt. Worüber Penelope Cruz als seine Ehefrau Laura verständlicherweise sauer ist und alles daransetzt, ihrem Mann das Leben schwer zu machen. Dramatischer Schlusspunkt ist ein spektakulärer Unfall des spanischen Fahrers Alfonso de Portago beim Straßenrennen Mille Miglia im Jahr 1957 mit mehreren Toten.

Mehr als 20 Jahre soll Michael Mann mit dem Projekt befasst gewesen sein. Ursprünglich waren Christian Bale bzw. Hugh Jackman für die Figur von Enzo Ferrari vorgesehen. Sie dürften erleichtert sein, dass ihnen diese Rolle erspart geblieben ist.

Einsame Helden

Der namenlose Auftragsmörder in David Finchers „The Killer“ ist alles andere als ein Held. Eher ein manischer Einzelgänger, der an die Figur von Alain Delon in Jean-Pierre Melvilles „Der eiskalte Engel“ (Le Samouraï) erinnert. Allerdings nicht mit Trenchcoat und Borsalino, sondern mit Sandalen und Shorts wie ein deutscher Tourist. Passenderweise beginnt der Film in Paris, wo der Killer sich in einem leeren Büroraum einquartiert und auf den Augenblick wartet, an dem sein Opfer in der Suite des gegenüberliegenden Luxushotels auftaucht. Trotz präziser Vorbereitung geht die Aktion schief und er erschießt irrtümlich eine Prostituierte.


Der Killer flieht nach Santo Domingo und muss feststellen, dass man in sein Haus eingebrochen ist und seine Freundin misshandelt, möglicherweise vergewaltigt hat. Er, der behauptet, nie aus persönlichen Motiven zu handeln, beginnt einen Rachefeldzug, der ihn nach New Orleans, Florida und New York führt. Michael Fassbender spielt den Killer emotionslos, mit regungslosem Gesichtsausdruck. Im ganzen Film spricht er kaum ein Dutzend Sätze, wiederholt aber in einem inneren Monolog immer wieder sein professionelles Mantra: „Alles antizipieren, nichts improvisieren, keine Empathie zeigen, denn Empathie ist gefährlich und macht verletzlich, nur professionelle Aufträge ausführen, keine persönlichen Gefühle zulassen“. Die Ironie des Films liegt darin, dass er auf dem Weg seiner Rache den Geboten seines Mantras ständig zuwiderhandelt. Insofern besitzt „The Killer“ einen subversiven Humor und lässt uns zugleich am Innenleben des Protagonisten teilhaben. Wir teilen seine Perspektive und sehen ihm gleichzeitig von außen zu.

Finchers „Killer“ bietet grandiose Schauplätze wie ein klassischer Actionfilm, minimalistisch gedimmt auf eine kühle Basistemperatur. Es ist gerade der widersprüchliche innere Monolog des Anti-Helden, der den Film zu einem großen Vergnügen macht.


Auch Mads Mikkelsen ist ein schweigender Held, doch alles andere als ein Killer. In Nicolai Arcels „Bastarden“ (Der Bastard/The Promised Land) spielt er Ludvig Kahlen, den unehelichen Sohn einer Magd, der in der preußischen Armee Karriere gemacht hat. Dänemark im 18. Jahrhundert, König Frederik ist entschlossen das Ödland der Provinz Jütland zu kultivieren und landwirtschaftlich zu nutzen. Kahlen ist bereit, dem Ruf des Königs zu folgen. Sollte es ihm gelingen, verlangt er ein Adelsprädikat und einen Hof mit Gesinde. Widerwillig entspricht die Rentenkammer in Kopenhagen seinem Verlangen. Doch zuerst hat er gar nichts, bloß sein Pferd und seine Offizierspension.

Es ist spannend zu verfolgen wie Kahlen versucht, den unfruchtbaren Boden urbar zu machen. Gegen den vehementen Widerstand des Grundbesitzers Frederik de Schinkel, der das öde Land für sich beansprucht und entschlossen ist, keine Siedler zu dulden. Kahlen findet Unterstützung beim örtlichen Pfarrer und nimmt ein Paar auf, das vor dem brutalen Regiment des Gutsbesitzers geflohen sind. Er schafft es sogar, Siedler aus Mecklenburg anzuwerben und Kartoffeln anzupflanzen, eine exotische Pflanze, die er in Preußen kennengelernt hat. Doch all seine Bemühungen scheitern am Widerstand und der Bosheit des Grundbesitzers.

„Bastarden“ ist ein überzeugender Historienfilm, ein Stück Klassenkampf im dänischen 18. Jahrhundert, adelige Privilegien gegen den Kampf der Unterprivilegierten um Land und Freiheit. Im Zentrum ein stoisch schweigsamer Mads Mikkelsen. Großartig.

Goldener Löwe und andere Preise

Nachdem der amerikanische Regisseur Damien Chazelle (La La Land, Aufbruch zum Mond) als Jurypräsident feststand, war klar, dass politisch engagierte Filme bei der Preisentscheidung wenig Chancen haben würden. So gab es für den erschütterndsten und wohl besten Film des Wettbewerbs, Agnieszka Hollands „Green Border“, nur einen Trostpreis, den Preis der Jury. Die Hauptpreise gingen an maximal unpolitische Filme, wie der Goldene Löwe an „Poor Things“. Die auf Englisch gedrehte Sex-plus-Emanzipation Geschichte des Griechen Yorgos Lanthimos ist politisch harmlos im imaginären Niemandsland einer nostalgisch verfremdeten Vergangenheit angesiedelt. Den Großen Preis der Jury gewann der Japaner Ryusuke Hamaguchi für „Evil Does Not Exist“, den maximal hermetischen und minimalistischen Film des Wettbewerbs, der auch den Preis der Internationalen Filmkritik, FIPRESCI gewann.


Wenn die Entscheidung für diese beiden Filme, die Favoriten der Kritik, absehbar und nachvollziehbar war, wirkt der Preis für die beste Schauspielerin, der an die Amerikanerin Cailee Spaeny für ihre Rolle in „Priscilla“ ging, eher willkürlich. Sofia Coppolas Œuvre über die Frau im Schatten des ‚King‘ scheint irgendwie überflüssig und wirft die Frage auf, ob die Welt einen weiteren Elvis-Film braucht. Daneben gab es stärkere Kandidatinnen für den Preis wie Jessica Chastain, Alba Rohrwacher oder Carey Mulligan.

Warum Pablo Larrains wirre Parabel „El Conde“ über General Pinochet als Vampir den Preis für das beste Drehbuch gewann, bleibt ein Rätsel. Die Auszeichnung von Peter Sarsgaard als bester Schauspieler war absolut in Ordnung, aber man hätte eher mit einem Preis für Bradley Cooper, Michael Fassbender oder Mads Mikkelsen gerechnet.

Für „Io Capitano“ wurde Matteo Garrone mit dem Regie- sowie sein jugendlicher Laiendarsteller Seydou Sarr mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet. Darüber hinaus gewann Garrones Migrationsepos zahlreiche Preise der Nebenjurys, u.a. den INTERFILM-Preis zur Förderung des interreligiösen Dialogs und den SIGNIS-Preis der katholischen Jury.


Es war ein ausgezeichneter Jahrgang in Venedig. Festivaldirektor Alberto Barbera hatte zum 80. Jubiläum einen Wettbewerb auf hohem Niveau zusammengestellt. Unbeeinflusst von Tendenzen der Cancel-Culture zeigte er den Mut, Woody Allen und Roman Polanski einzuladen. Cineastische Sorgfalt zeigt sich auch darin, dass sich Venedig als letztes der großen Festivals einen gedruckten Katalog erster Güte leistet. Das Defizit der abwesenden Stars, besonders von den audiovisuellen Medien beklagt, wurde durch die Qualität der Filme mehr als wettgemacht. Solange Venedig nicht untergeht, wird auch das Kino nicht untergehen.