Das Herz der Erinnerung ist der Schmerz und die Heilung

Eine Rückschau auf den Internationalen Online-Wettbewerb der 67. Kurzfilmtage Oberhausen. Von Phil Rieger
La cumbre (Felipe Lopez Gomez)

La cumbre (Felipe Lopez Gomez)


Erinnern Sie sich noch daran, was sie heute vor einem Jahr getan haben? Vor zwei Wochen? Gestern Mittag? Unsere Erinnerungen sind Konstruktionen: Die Welt, wie sie in der Rückblende einmal war. Ob sie wirklich so war, ist dabei meist nebensächlich. Mit unseren Erinnerungen erzählen wir uns und anderen die Geschichte unseres Lebens, sie bilden das Narrativ, das uns zu dem Punkt gebracht hat, an dem wir jetzt grade stehen. Einiges wird ausgelassen und abgeändert, anderes lässt sich nur vage beschreiben.

Die Reflexion über die Erinnerungen, die danach fragen, wer wir sind, warum wir so sind wie wir sind und wie die Dinge hätten sein können, fand sich im Internationalen Online-Wettbewerb der 67. Kurzfilmtage Oberhausen bestechend häufig.

In „La Cumbre“ (Felipe Lopez Gomez, Kolumbien 2021) befragt der Filmemacher seine eigenen Großeltern in Kolumbien, wie sie sich an ihn und die eigene Familie erinnern. Dazu zeigt er Bilder des Familienhauses, welches er mit nostalgischer Filmtechnik einfängt. „Manchmal wünsche ich mir, wieder jünger zu sein. Ich wünschte, ich könnte in der Zeit zurück gehen und mehr Zeit mit Dir verbringen“, sagt die Großmutter als einer der letzten Sätze im Film. Der Film zeigt uns, dass unser Leben nichts anderes sein kann als Fragment und nichts, was wirklich unserem Anspruch nach Perfektion genügen könnte. Die Großmutter schließt mit dem Satz: „Aber das ist das Leben, es kommt und geht.“ 

In „Kalsubai“ (Yudhajit Basu, Indien 2020) sehen wir die Erinnerung als eine stetige Vergewisserung des eigenen Glaubens: Wir hören im Voice-Over die Geschichte über die Göttin Kalsu und ihre Bedeutung für die Frauen im indischen Bari. Es ist, als würde eine der Stammesältesten die Geschichte grade einer Gruppe von neugierigen Mädchen erzählen, damit sie diese an die nächste Generation weitertragen können. Eine Erinnerung, die wach macht für das Leben. Denn sie erzählt vom Schutz und der Liebe, die die Göttin für ihr Volk empfindet. Eine Erinnerung, die den Frauen Kraft und Zuversicht gibt: Voller Freude tanzen sie des Nachts synchron um ein Feuer und singen gemeinsam – die Kamera ist dabei immer auf Distanz, als wolle sie uns sagen: Ihr habt die Geschichte von Göttin Kalsu gehört, begreifen werdet ihr sie nur, wenn Ihr selbst die Erinnerung lebt und eines Tages mit um das Feuer tanzt.


Als Ökumenische Jury des Online-Wettbewerbs zeichneten wir „Kalsubai“ mit einer Lobenden Erwähnung aus.

Mit „Minnen“ (Memories, Kristin Johannessen, Schweden 2020) taucht eine Regisseurin tief in ihren eigenen Ozean voller Erinnerungen ab. Mit originalen Kameraaufnahmen aus ihrer Jugendzeit, die sie selbst gedreht hat, holt sie ihre Lebensgeschichte ins Hier und Jetzt.

Wir erleben Kristin in der herausforderndsten Phase ihres Lebens, denn Ihr Alltag wird bestimmt von zahlreichen Kontrollzwängen: Aus der First-Person-Perspektive heraus sehen wir Kristins Hand, mit der sie unzählige Male kontrolliert, ob die von ihrer Mutter eben abgeschlossene Haustür auch wirklich zu ist. Wir hören das Stöhnen der verzweifelten Mutter im Hintergrund. Diese authentischen Aufnahmen paart die Regisseurin mit einem emotionalen Interview ihrer Eltern: „Wir waren so verbunden mit der Sicht, wie Du die Welt sahst, dass wir diese schon übernommen hatten. Du warst eine Gefangene und wir waren dadurch auch gefangen.“


Diese persönliche und authentische Aufarbeitung von dem, was einmal war, verbindet den Schmerz der Erinnerung mit ihrem heilenden Potential: Der Film zeigt die gläsernen Augen der Eltern, wenn sie über ihre Erinnerungen an das vergangene Leben mit ihrer Tochter sprechen. Ohnmächtig und verzweifelt sitzen sie beide vor der kahlen Wand auf einer Couch. Die Erinnerung ist keine nüchterne Rückschau, sondern etwas, das heute noch bannt und berührt. Und gleichzeitig spüren wir den dabei einsetzenden Reinigungsprozess: Das Geschehene wird sortiert, die unterdrückten Gefühle von damals bekommen im Jetzt ihren Raum. Die Erinnerung wird zur heilenden Kraft der Gegenwart.

Wir zeichneten „Minnen“ mit dem Preis der Ökumenischen Jury im Internationalen Online-Wettbewerb aus.

Ein Dank geht an dieser Stelle an die hervorragende Festivalorganisation, die auch in diesem Jahr aufgrund der Corona-Pandemie die Kurzfilmtage ins Digitale verlagern musste. Doch von Unsicherheit war keine Spur: Die technische Abwicklung wirkte schon fast routiniert und die Begleitung durch das Festivalteam war fantastisch.

Weiter geht ein Dank an meine Jurykolleg*innen Blandine Brunel, Michele Lipori und Silvan Maximilian Hohl: Es war eine große Freude, mit einem so inspirierenden Team über die gesichteten Kurzfilme ins Gespräch zu kommen. Auch wenn wir uns nur als Videokonferenz-Kacheln sehen konnten, entstand ein echtes Gefühl der Verbundenheit, was zu intensiven und spannenden Diskussionen führte. In der Auszeichnung der Preisträger*innen waren wir uns am Ende, zu unser aller Überraschung, sehr einig.