Identität und Mitmenschlichkeit, Autobiographie und Fiktion

Ein Bericht über das 61. Film Festival Locarno von Alexander Deeg, Mitglied der Internationalen Ökumenischen Jury

35 Jahre Ökumenische Filmjury in Locarno

Seit genau 35 Jahren gibt es eine Internationale Ökumenische Filmjury bei den Filmfestspielen in Locarno – jenen Festspielen, die die Piazza Grande des beschaulichen Städtchens mit 8.000 aufgestellten Sitzplätzen und einer riesigen Leinwand in ein gigantisches Open-Air-Kino verwandeln und die ganze Stadt am Lago Maggiore für zehn Tage ins Zeichen des Leoparden tauchen. 35 Jahre Ökumenische Filmjury – ein kleines Jubiläum also! Diesmal sahen sechs Jury-Mitglieder aus Deutschland, Indien, Irland, Mexiko und Österreich unter der Leitung des Schweizer Präsidenten Serge Molla 18 Filme des Internationalen Wettbewerbs. Der Ökumenische Gottesdienst sowie der Ökumenische Empfang boten Gelegenheiten der Begegnung und des Miteinanders. In seinem 61. Jahr zeigte Locarno ein buntes Programm mit vielen guten und einigen hervorragenden Filmen.

Ambivalentes auf der Piazza Grande

Vor allem bei den nächtlichen Vorführungen auf der Piazza Grande war aber auch die eine oder andere Enttäuschung dabei. So konnte der neue Film Plus tard tu comprendras (Später wirst du verstehen, Frankreich 2008) des israelischen Regisseurs Amos Gitai, der in diesem Jahr für sein Gesamtwerk mit dem „Leopard d’Honneur“, dem Ehrenleoparden, ausgezeichnet wurde, kaum überzeugen. Der Film zeichnet die Versuche des Sohns einer Holocaust-Überlebenden nach, seine Familiengeschichte, über die zuhause nie gesprochen wurde, zu rekonstruieren, changiert dabei zwischen Dokumentation und Fiktion und verliert sich in langwierige und wenig glaubwürdige Dialoge. Die Bilder tragen kaum etwas zu der Geschichte bei – einer Geschichte, die man im Kino auch schon besser gesehen und in der Literatur überzeugender gelesen hat.

Ambivalent wurde der erste Film des italienischen Autors Alessandro Baricco vom Publikum aufgenommen. Lezione 21 (Italien/Großbritannien 2008) ist ein Film über den Zauber der Musik, genauer: über Beethovens Neunte, ihre Entstehung, ihre Größe und ihre Grenzen. Vielleicht will Baricco zuviel, wenn er die berühmteste Vorlesung eines etwas skurrilen Professors („Lezione 21“ heißt übersetzt „Vorlesung 21“), die sich mit Beethovens Neunter beschäftigt, mit der Geschichte des alternden Professors, des greisen und tauben Beethoven und einer poetisch-märchenhaften Bildwelt verbindet. Dennoch: das Wagnis, Musik und ihren Zauber sichtbar zu machen, gelingt immerhin in manchen Szenen des Filmes.

Identität und Mitmenschlichkeit – eines der Themen im Internationalen Wettbewerb

Der Internationale Wettbewerb bot 18 Filme, die vielfach von Verlust, Einsamkeit und Trauer sowie von der Suche nach Identität erzählten. So nahm die niederländische Regisseurin Mijke de Jong in ihrem Film Het Zusje Van Katia (Katias Schwester, Niederlande 2008) mit auf den Weg eines 13-jährigen Mädchens, das sich selbst über weite Teile des Films nur als Schwester der einige Jahre älteren Katia bezeichnet. Der Film spielt in Amsterdam, und die familiären Verhältnisse, in denen Katias Schwester lebt, als schwierig zu bezeichnen, wäre sicherlich noch weit untertrieben: Ihren Vater kennt sie nicht, ihre Mutter verdient ihr Geld als Prostituierte, und die von ihr bewunderte Schwester Katia fängt gerade an, als Stripperin in einem Nachtclub zu arbeiten und ihr Geld in Drogen zu investieren. Die 13-Jährige ist weithin auf sich gestellt auf der Schwelle zwischen ihrem Kindsein, das sie in diesen Umständen kaum leben kann, und ihrem Weg hin zur Erwachsenen. Sie streift durch Amsterdam, berührt wildfremde Menschen auf der Straße, hört deren Gesprächen zu – und atmet so ein wenig ‚Normalität‘, die ihr zuhause verwehrt ist. In dem Evangelisten John Turner begegnet ihr die Bibel und die Botschaft von Jesus, mit der sie auf höchst individuelle Weise umgeht. Ganz am Ende des Films wird Katias Schwester zum ersten Mal mit ihrem eigentlichen Namen genannt: „Lucia“, was „Licht“ bedeutet – und Mijke de Jong taucht die Schlussszene in glänzendes Weiß. Ein bewegender Film über die Suche nach Identität zwischen Kindheit und Erwachsensein!

Von Identität und Verwandlung erzählt auch Yuriev Den (Der Tag in Yuriev, Russland/Deutschland 2008), der Film, der von der Ökumenischen Jury mit einer Lobenden Erwähnung ausgezeichnet wurde. In Yuriev Den ist es eine international erfolgreiche russische Opernsängerin, deren Leben sich völlig verändert. Auf dem Weg zu einem Konzert nach Wien, bei der sie von ihrem Sohn begleitet wird, macht sie Station in Yuriev, ihrem Heimatort in der russischen Provinz. Der Besuch dort hat auch das Ziel, ihren Sohn, zu dem sie spürbar kaum eine Beziehung hat, an ihr Leben und ihre Wurzeln heranzuführen. In Yuriev aber verschwindet der Sohn. Auf der Suche nach ihm, dem sie nie eine wirkliche Mutter sein konnte, wird sie zur „Mutter“ der Armen, Kranken und Ausgegrenzten in Yuriev. Der Film besticht durch seine Bildsprache, die zahlreiche religiöse Motive aufnimmt, sowie durch seine Anlehnung an großes russisches Filmschaffen und an russische Literatur. Es geht in ihm um weit mehr als um die Veränderung der Identität der Sängerin – es geht um die Frage, wie wir in Beziehungen leben und wie und inwiefern wir durch das Absehen von uns selbst erst eigentlich zu uns selbst finden.

Von der Chance und Notwendigkeit des Miteinanders erzählt auch der irische Film Kisses (Küsse, Irland/Dänemark/Schweden 2008). Es geht um zwei Kinder, die nebeneinander wohnen und beide aus schwierigen Familien kommen, in denen geschlagen wird bzw. Missbrauch geschieht. Kurz vor Weihnachten brechen beide aus ihren Familien aus – und machen sich auf den Weg vom Vorort in die Innenstadt Dublins. Sie erfahren in beglückenden und deprimierenden Begegnungen, was es bedeutet, sich aufeinander zu verlassen und einander zu vertrauen. Küssen, das heißt Geben und Empfangen – so einfach sagt es eine Prostituierte, die die beiden kennenlernen. Der Austausch der Küsse zwischen den beiden Kindern wird zum Symbol der Überwindung der Härte der Gesellschaft und des Zusammenlebens in den jeweiligen Familien.

Autobiographie und Fiktion – eines der Charakteristika im Internationalen Wettbewerb

Zahlreiche der auf dem Festival gezeigten Filme haben autobiographische Wurzeln im Leben der Filmemacher. So der Träger des diesjährigen Goldenen Leoparden Parque Vía (Mexico 2008) von Enrique Rivero. Er porträtiert einen Mann aus der armen ‚indianischen‘ Bevölkerung Mexikos, der seit Jahren ein zum Verkauf stehendes Haus pflegt und sich darin und in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. Der Hausverwalter wird nicht von einem professionellen Schauspieler gespielt, sondern eben von jenem Beto, der tatsächlich jahrelang das Haus der Familie des Filmemachers pflegte. In der Tradition der Filme Robert Bressons verweilt Rivero mit langen Einstellungen beim Alltag Betos. Dem Film gelingt so eine eindrucksvolle Charakterstudie – zu Recht ein preisgekrönter Film!

Auch der als zweitbester Wettbewerbsbeitrag von der Internationalen Jury ausgezeichnete Film 33 Szeny z zycia (33 Scenes from Life, Deutschland/Polen 2008) geht auf autobiographische Erfahrungen zurück. Die polnische Regisseurin Malgoska Szumowska verlor in kurzer Zeit ihre beiden Eltern – und dreht einen Film, in dem die deutsche Schauspielerin Julia Jentsch beeindruckend eine junge Frau spielt, der dasselbe zustößt. Besonders der Krebstod der Mutter und der Umgang der Tochter damit werden dicht und anrührend geschildert.

Ebenfalls autobiographisch inspiriert ist Mar Nero (Schwarzes Meer, Italien/Rumänien/Frankreich 2008) von Federico Bondi, der Preisträger der Internationalen Ökumenischen Jury. Bondis Großmutter hatte eine Pflegerin aus Rumänien – eine Begebenheit, die den Stoff für den Film liefert. Mar Nero erzählt, wie Angela aus Rumänien nach Italien kommt, um dort Geld zu verdienen. Angela ist jung, frisch verheiratet und wünscht sich ein Kind. Das in Italien verdiente Geld soll der eben gegründeten Familie zugute kommen. Allerdings macht ihr die alte Italienerin Gemma, die gerade ihren Mann verloren hat und von ihren Kindern zu wenig unterstützt wird, das Ankommen in Italien schwer. Gemma – meisterhaft von der als beste Schauspielerin auf dem Festival ausgezeichneten Ilaria Occhini gespielt – ist verbittert und verschlossen in ihrer Trauer und Unzufriedenheit – und lässt Angela das spüren. Die Art und Weise aber, wie sich Angela ihr nähert, wie sie die alte Dame vorsichtig berührt, ohne ihr die Würde und Freiheit zu nehmen, bricht die Starre auf. Die beiden nähern sich an und werden Freundinnen. Als Angelas Mann sich nicht mehr meldet und diese deswegen zunehmend beunruhigt ist und die Rückreise beschließt, legt ihr Gemma keine Steine in den Weg – trotz des offensichtlichen Verlustes, den dies für sie bedeutet. Im Gegenteil: sie begleitet Angela in ihre Heimat und lernt sie und ihre Umgebung dort besser verstehen. Mar Nero ist ein Film, der mit langsamen Einstellungen und dennoch packend von Trauer und ihrer Überwindung, von Hoffnungslosigkeit und neuer Hoffnung, von Freundschaft und Vertrauen zwischen den Generationen und zwischen Menschen aus völlig verschiedenen ökonomischen Verhältnissen erzählt.

Locarno 2008 – Numerisches und Atmosphärisches

372 Filme gab es in diesem Jahr in Locarno zu sehen. Jeden Abend einen oder zwei unter dem Sternenhimmel (manchmal allerdings auch unter dunklen Wolken, die dieses Jahr ihre Schleusen zu oft öffneten!) der Piazza Grande, 18 im Internationalen Wettbewerb und viele weitere in den Kinos der Stadt. Gut 3.000 Filmschaffende und 1.000 Journalisten waren versammelt; 180.000 Menschen wurden insgesamt in den Kinos gezählt. Ein beeindruckendes Festival, das mit seinen Wettbewerbsfilmen zeigte, dass Kino nach wie vor in der Lage ist, das Leben in seiner Schönheit und mit seinen Abgründen zu zeigen und die großen Fragen des Menschseins eindrucksvoll zu inszenieren.