Mutige Autoren aus Russland

Zur Situation des russischen Films heute
Leviathan

Leviathan, von Andrej Svjaginzev

 

In einer Zeit, da der Kreml patriotische Heimatfilme fördern will, machen mit «Leviathan» und «Durak» zwei sozialkritische russische Dramen Furore, Ersteres begeisterte sogar die Oscar-Academy. Der Filmwissenschaftler Hans-Joachim Schlegel beleuchtet in seinem zuerst in der Schweizer Filmzeitschrift "Frame" erschienenen Artikel die schwierige Situation unabhängiger Filmregisseure in Putins Russland.

«Der Film ist die wichtigste aller Künste»: Dieses Verdikt von Lenin hing zu Sowjetzeiten in allen Studios und Verwaltungsbüros des Riesenreiches. Entsprechend gross war das Kinonetz im Land von Europas filmfreudigstem Publikum. Mit der Wende 1989 und der Privatisierung der Studios setzte aber ein Kinosterben ein; viele Gebäude dienen jetzt als Autosalons und Kaufhallen. Der Filmmarkt wurde von B- und C-Pictures aus Hollywood überflutet, welche russische Regisseure zu imitieren versuchten. Dadurch wurden Autorenfilme weitgehend verdrängt. Vor rund zehn Jahren begann eine Generation von jungen russischen Regisseuren sich dagegen zu wehren.

Den Auftakt machte 2003 Andrej Svjaginzev. Sein Debütfilm The Return gewann den Goldenen Löwen von Venedig, was zuvor nur Andrej Tarkovskij im Jahr 1962 mit seinem Erstling Iwans Kindheit gelungen war. In faszinierenden Bildern erzählt Svja­gi­nzev, wie ein verschwundener Vater plötzlich wieder auftaucht. Die Auseinandersetzung mit seinen zwei halbwüchsigen Söhnen endet tragisch. Die Kritik feierte das als Beginn einer neuen Welle. 

Visuell beeindruckt ebenso Andrej Svja­ginzevs neuer Film Leviathan, der 2014 in Cannes für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde.  Svja­ginzev attackiert darin offen brutal-autoritäre und korrupte Staats-, Justiz- und Kirchenvertreter. Das ist den russischen Machthabern natürlich ein Dorn im Auge. Der Titel verweist nicht nur auf Hiobs Leidensgeschichte an, die hier ein Automechaniker im aussichtslosen Kampf um sein Landgut auf der nordrussischen Halbinsel Kola durchmacht. Der Titel spielt vor ­allem auch auf das gleichnamige Werk des englischen Philosophen Thomas Hobbes über die Allmacht des Staates an, die vor nichts haltmacht. 

Fluchen verboten

Ausgerechnet der Bürgermeister und seine Entourage saufen und fluchen hier – selbst unter dem Porträt von Staatspräsident Putin. Das ist genau das Spiegelbild, in dem sich die Elite des Landes nicht sehen will. Es ist das, was nationalkonservative Duma-Abgeordnete seit langem als «Tschernucha», als Schwarzmalerei, bekämpfen. 

Leviathan sollte ursprünglich das Moskauer Festival eröffnen. Dieses ist dringend auf bessere Filme angewiesen. Seit dem 5. Februar läuft das Drama nun in den russischen Kinos, allerdings in einer zensurierten Fassung. Regisseur Swjaginzew hat die Russen dazu aufgerufen, sich die im Internet aufgetauchte Originalversion herunterzuladen, die sämtliche verbotenen Flüche enthält.


Denn seit 1. Juli 2014 ist in Russland ein vom russischen Präsidenten Wladimir Putin höchstpersönlich unterzeichnetes Gesetz in Kraft, das Fluchen in Kino, Theater und Literatur mit Geldstrafen und im Wiederholungsfall sogar mit Berufsverbot ahndet. Die Regisseurin Natalia Meschtschaninowa hat ihren Film «Kombinat Hoffnung» schon entsprechend verändert. Er spielt in der Tristesse einer sibirischen Industriesiedlung, wo Jugendliche sich in Alkohol und Sex flüchten. Der«Leviathan»-Produzent war bereit, die Flüche der Staatsrepräsentanten im Film zu überspielen. 

Bereits vor der Weltpremiere in Cannes hat der russische Kulturminister Wladimir Me­dins­ki gegen den Film vom Leder gezogen. Er monierte, es gebe darin keine einzige positive Figur. Nach dem Erfolg bei den Golden Globes legte er nach. Leviathan sei ein «antirussischer Film», der eine Geschichte erzähle, wie sie sich vielleicht «in Colorado, den arabischen Vororten von Paris oder im deprimierten Süditalien» abspielen könne. «Würde die Handlung dort spielen, gäbe es dafür aber kaum so viele Preise im Westen.» Der Film werde lediglich wegen seiner Kritik an der Heimat gefeiert. 

In einigen Städten Russlands, etwa in Kirowsk und Murmansk, wo gedreht wurde, weigern sich die Kinobesitzer standhaft, den Film überhaupt zu zeigen. Vertreter der orthodoxen Kirche verlangen sogar ein Berufsverbot für den Schauspieler, der im Film den Pfarrer verkörpert.


Svjaginzev will sich dem Druck aber nicht beugen. Im Kampf gegen das neue Filmgesetz bekommt er immer mehr Unterstützung. Selbst der als autoritärer Film-Zar agierende Nikita Michalkov, der zu Wladimir Putins Geburtstag 2014 den höchst peinlichen Agit-Film 55 drehte, findet das Gesetz unangemessen; zumal dann ja selbst Soldaten in patriotischen Kriegsfilmen wie seinem Soleil Trompeur  (1994) eine «gesäuberte» Sprache sprechen müssten. Dass Michalkov gegen das Gesetz opponiert, ist auch darum erstaunlich, weil der 69-jährige Altmeister ein Leben lang aufseiten der Staatsmacht stand. Er ist der Sohn des Dichters Sergei Vladimi­ro­vitsch Michalkov, der Nationalhymnen für die Sowjetunion und für Russland schrieb. 

Tabu Homosexualität

Die Initiative zum Gesetz hatte im April 2014 ausgerechnet ein Filmemacher ergriffen: Der populäre Regisseur und Schauspieler Stanislaw Govoruchin formulierte damals als Vorsitzender der Duma-Kulturkommission unzweideutig: «Wer Flüche aus seinem Film nicht entfernen will, der soll dem Staat das Geld ­zurückzahlen.»

Auch das Gesetz, das die Propagierung von Homosexualität unter Strafe stellt, gilt für Filmemacher, die zuweilen bereits im Vorfeld einen entsprechenden Verdacht ausräumen müssen. So wie das mit Kirill Serebrennikovs Biografiefilm Tschaikowsky passierte, der nach einer aufgeregten Diskussion erst dann Fördergelder bekam, als das Drehbuch keinerlei Anspielungen auf die Homosexualität des grossen Komponisten mehr enthielt. 

Der absurde Kampf für eine saubere Leinwand könnte noch überboten werden: Der Erzpriester Vsevolod Tschaplin, der Vorsitzende des Öffentlich­keits­-Synods der russisch-orthodoxen Kirche, fordert im Alltag und auf der Leinwand einen russisch-orthodoxen Dresscode.

Zuflucht im Alkohol

Regisseur Juri Bykov hatte sein Projekt glücklicherweise noch vor Inkrafttreten des Filmförderungsgesetzes eingereicht. In seinem Drama Durak, das in Locarno ausgezeichnet wurde, will ein einfältig-gutmütiger Sa­ni­tätstech­niker Menschen aus einem Haus retten, das vom Einsturz bedroht ist. Dabei stösst er auf die Gleichgültigkeit der Bürgermeisterin und ihrer Stadtverwaltung. Der Film, der in einer Nacht spielt, zeichnet das schonungslose Bild einer kleptomanischen Elite, die sich nicht um das Wohl der Bevölkerung schert. Diese hat längst resigniert und in Gewalt und Alkohol Zuflucht gesucht.


Durak erinnert an zwei visionäre Filme der Perestroika-Periode: an Eldar Schengelaias Satire Blaue Berge, oder: Eine unwahrschein­liche Geschichte (1984) sowie an Fontäne (1988) von Juri Mamins. In beiden Werken wurde die Ignoranz eines bedrohlichen Haus­risses zum Symbol des sich damals abzeichnenden Zusammenbruchs eines Staatssystems.

Doch auf reale Probleme der Gesellschaft sollen Filme laut der Regierung Putins nicht aufmerksam machen, im Gegenteil: Sie sollen positive Bilder ins Kino bringen. Im Dezember 2014 verkündete Kulturminister Vladimir Medinski in der Duma, dass sich die Filmförderung 2015 auf Adaptionen russischer und sowjetischer Literatur konzentrieren solle. Und auf historische und genau 70 Jahre nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg insbesondere auf patriotische Kriegsfilme. Diese sollen «der kulturellen, moralischen und geistigen Wiedergeburt der Gesellschaft dienen», wie Me­dinski sagte. Als Beispiel nannte er das mit Kasachstan geplante Projekt Die 28 Panfilow-Kämpfer

Nationalpatriotische Geschichtsfilme und Lite­ra­turadaptionen hatte bereits Stalin verordnet. Das Ergebnis war eine Tristesse von Bilderbögen, denen eine Zeit mit stark eingeschränkter Filmproduktion folgte. Dass die besseren dieser Filme das erwünschte Ziel zu unterlaufen verstanden, belegt der zweite Teil von Iwan, der Schreckliche von Sergei Eisenstein, der erst 1958, fünf Jahre nach Stalins Tod, im sowjetischen Verleih gezeigt werden durfte. 

Ein neues Werk, das den Machthabern gefallen dürfte, ist Stalingrad. Das Epos wurde im Herbst 2013 fertiggestellt und stammt von Fjodor Bondartschuk, Sohn des sowjetischen Blockbuster-Regisseurs Sergei Bondartschuk. Es beeindruckt technisch, da es komplett in 3-D und als erster russischer Film im Imax-Format gedreht wurde. Inhaltlich aber setzt es auf Action und flache Dialoge. Obwohl er der finanziell erfolgreichste russische Film aller Zeiten ist, blieb das Echo von Kritikern und Publikum verhalten. 

Auf dem Gebiet der Literaturverfilmungen kann man nur hoffen, dass etwas Besseres herauskommt als Nikita Michalkovs Verfilmung von Bunins Erzählung Sonnenstich (2014), die in klischierten Bildern den Untergang des «weissen», zaristischen Russlands beklagt. 

Als Folge der patriotischen Orientierung schiessen gegenwärtig «Festivals des patriotischen Films» aus dem Boden, die von kirchlichen Filmstudios mit Namen wie «Russischer Weg», «Vaterland» und «Kanon» bestückt werden. Das Festival «Goldener Ritter» bezieht dabei mit antiwestlichen und zuweilen sogar rechtsextremen Akzenten sämtliche orthodoxen Länder mit ein. 

Alexander Mindadze musste erfahren, dass angebliche Verletzungen patriotischer Gefühle bereits dann geahndet werden, wenn man ein Drehbuch einreicht: Die mit Kriegsveteranen besetzte historische Expertenkommission des Kulturministeriums hatte Einwände gegen die ursprüngliche Version von Lieber Hans, teurer Piotr. In diesem Film über die Arbeit deutscher Spezialisten in einem Glaswerk kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war das Bild der Deutschen gar zu positiv ausgefallen. Mindadze musste das Drehbuch umschreiben, um sein Projekt realisieren zu können. 

Heimatloses Filmmuseum

Zu denken gibt auch das Schicksal des russischen Filmmuseums, das aufgrund einer Immobilienspekulation von Nikita Michalkov 2005 aus dem Moskauer «Kinozentrum» vertrieben wurde und seither heimatlos ist. 2014 wurde dem noch eine Spitze aufgesetzt: Naum Kleiman, ein weltweit anerkannter Filmhistoriker, wurde als Direktor abgesetzt. An seine Stelle trat eine Frau aus Nikita Michalkovs Entourage: die von Kulturminister Medin­ski eingesetzte Filmjournalistin Larisa Solo­nizyna, die ihre fehlende Kompetenz durch grob-autoritäres Verhalten zu kompensieren versucht. Sämtliche Fachkräfte des Museums kündigten darauf ihre Mitarbeit auf. 

Russland, ein Land mit einer grossen Filmtradition, hat also schon zehn Jahre lang keinen festen Platz für sein Filmmuseum und lässt es jetzt auch noch von einer inkompetenten Direktorin herunter­wirt­schaften. Das ist ein beispielloser nationaler wie internationaler Skandal! Wer jenseits der scharf gezogenen Linien von Russlands sauberer Leinwand Gegenwartsprobleme reflektieren will, wird es jetzt noch schwerer als bisher haben. Kulturminister Medinski betonte zwar, dass es keine Zensur gebe oder geben werde. Doch nicht nur die Gesetze sprechen eine andere Sprache. Auch er selbst scheut nicht vor deutlichen Worten zurück. Zum Beispiel gegenüber dem Dokumentarfilmer und Präsidenten des renommierten Moskauer ArtDoc-Festivals, Vitali Manski, dem Medinski «antistaatliche Aussagen» vorwirft: «Solange ich Minister bin, wird kein einziges Projekt von Manski unterstützt werden, und ich werde mein Veto gegen jede Entscheidung ­irgendeiner Expertenkommission des Kulturministeriums einlegen.» 

Nach einigem Hin und Her wurde am 3. Juni 2014 Manskis Film Verwandte über die gegenwärtige Ukraine endgültig abgelehnt. Und im November 2014 wurde jedwede finanzielle Unterstützung für das von Manski geleitete ArtDoc-Festival verweigert: «Er sagte derart antistaatliche Dinge, dass er das Festival auf eigene Kosten machen soll. Dagegen ist niemand. Wir verbieten schliesslich das Festival nicht», sagte Medinski. Was genau mit den «antistaatlichen Aussagen» gemeint ist, erklärte er jedoch nie. 

Vielleicht hat Wladimir Putins Kulturminister noch nicht vergessen und auch nicht verziehen, dass Manski auf dem ArtDoc-Festival vom Dezember 2013 im Vorfeld der Winterolympiade von Sotschi Putins Spiele zeigte, die radikal kritische Dokumentation des russischen Israelis Alexander Gentelev. Ein Ärgernis dürfte auch Manskis Unterschrift unter den Brief russischer Filmemacher «Wir sind mit euch!» sein. Dort heisst es: «Wir sind kategorisch gegen die Lügen in der Darstellung der für die Ukraine schicksalshaften Ereignisse und ganz besonders gegen eine russische Militärintervention.» 

Auch die gegenwärtige, durch den Verfall des Rubelkurses verursachte Wirtschaftskrise hat negative Folgen für die russischen Filme­macher. Eine Kürzung der Kulturgelder dürfte folgen. 

Fokus auf China

Zwischen 2010 und 2012 strebte die Regierung noch Koproduktionen mit europäischen Partnern wie Deutschland oder Frankreich an. Diese sind aber nicht mehr daran interessiert, weil sich kaum Gewinne erzielen lassen und die Auflagen der Kulturbürokraten inakzeptabel sind. Deshalb hat Medinski inzwischen einen geografischen Kurswechsel angekündigt: Jetzt soll vor allem das Filmgeschäft mit China nachdrücklich gefördert werden. Das entspricht der generellen geopolitischen Neuorientierung Russlands, das sich vom Westen abwendet und seine Verbündeten im Osten sucht. Ob das Publikum diese Koproduktionen annehmen wird, bleibt freilich abzuwarten.


Filme wie Leviathan und Durak zeugen vom rebellischen Geist der russischen Autorenfilmer. Wird dieser jetzt durch die neue Politik im Keim erstickt? Oder stachelt Putin nicht vielmehr den Widerstand weiter an? Die derzeitige Entwicklung der russischen Filmpolitik kommt mit ihrer Disziplinierung auf jeden Fall einer indirekten Zensur gleich. Nun hat Russland damit langjährige Erfahrungen. In Sowjetzeiten konnte der nach wie vor bedeutende Regisseur Andrej Tarkovskij in 25 Jahren lediglich fünf Filme drehen, die teilweise lange verboten blieben. Erst als Tarkovskij 1984 ins italienische Exil ging, konnte er endlich frei drehen. Er betonte nach seinem Entschluss, nicht mehr in die UdSSR zurückzukehren, gegenüber dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» jedoch, dass er in der Heimat finanziell nicht behindert worden war. 

Tatsächlich sind in Sowjetzeiten bedeutende Filme entstanden und Mittel gefunden worden, Unangepasstes in Bild und Wort zu bringen. Die vielen Filme, die während der Perestroika aus den Regalen der Zensur­büro­kraten befreit wurden, belegen, dass solche Filme gedreht werden konnten und ihnen erst danach der Weg zum Publikum verweigert wurde.

Auch gegenwärtig gibt es begabte Regisseure wie Alexander Sokurov (Russian Ark), Andrej Svjaginzev oder Alexei Popogrebski (How I Ended This Summer), die ihr Recht auf Autorenschaft wahrnehmen. Doch sie haben es keinesfalls einfach. Die ­finanzielle Zuchtrute der Förde­rungs­verweigerung kann letztlich viel rigoroser sein als seinerzeit die ideologische Zensur sowjetischer Bürokraten. Umso wichtiger ist darum, dass Westeuropa aufmerksam bleibt und unangepasst kritische Filme unterstützt, die trotz den Hindernissen entstehen. Sie sollten viel häufiger in hiesigen Kinos zu sehen sein. 

 

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe der Filmzeitschrift "Frame", die auch auf iTunes erhältlich ist: https://itunes.apple.com/ch/app/frame-filmmagazin/id804738625?mt=8