DOC Quarantäne Nyon

Bericht zur Online-Ausgabe des Festivals Visions du Réel Nyon 2020. Von Annet Betsalel

In den letzten zehn Apriltagen hat sich mein Horizont während der aufgezwungenen Corona-Quarantäne enorm erweitert. Ja, man kann mit der ganzen Welt online kommunizieren, man kann sich Filmreihen ansehen, aber nichts bringt einen so heraus aus der Komfortzone, wie tief in die Welt der Dokumentarfilme einzutauchen. Glücklicherweise hat das in Nyon ansässige Festival Visions du Réel, obwohl das physische Festival abgesagt wurde, eine Online-Version entwickelt, sodass wir eine sehr vielfältige Auswahl an Dokumentarfilmen aus der ganzen Welt sehen konnten.

Als Mitglieder der Interreligiösen Jury konnten wir uns nicht persönlich treffen, aber ich habe das Gefühl, dass wir uns wirklich nahe gekommen sind. Wir bildeten eine interessante und vielfältige Gruppe, jeder mit seinem beruflichen, kulturellen, religiösen und persönlichen Hintergrund. Was wir alle gemeinsam hatten, war unser Interesse an der Menschheitsfamilie - und natürlich an Dokumentarfilmen. Es war wunderbar, Menschen getroffen zu haben, mit denen man sich auf einer solchen Ebene austauschen konnte. Auch wenn es ein etwas anstrengendes Experiment war, zu Hause stundenlang Dokumentarfilme anzuschauen und jeden Morgen darüber zu diskutieren, so bin ich doch sehr dankbar, dass ich meine virtuellen Jury-Kollegen André Joly, Blanca Steinmann und Ali Biçer kennengelernt habe. Hoffentlich werden wir uns bald alle im wirklichen Leben treffen, uns vielleicht sogar schon die Hand schütteln.


Doch zunächst ein Wort des Dankes und der Anerkennung für all die Frauen und Männer, die diese Filme gemacht haben, die die Welt um sich herum erkundet haben oder tief in Welten eintauchten, die sie interessierten. Lang andauernde, oft mühsame Projekte, die in der Regel mit sehr geringer finanzieller Unterstützung realisiert wurden und in die sie sich mit Leidenschaft stürzten - mit erstaunlichen Ergebnissen. Ein großer Applaus für die Filmschaffenden!

Nun möchte ich meine Eindrücke von einigen der langen Dokumentarfilme aus Nyon mitteilen, die hoffentlich bald auf anderen Festivals, im Kino, online - oder vielleicht im Fernsehen - zu sehen sein werden. Die Vielfalt der Filme machte es uns als Jury sehr schwer, einen Vergleich anzustellen, schließlich mussten wir am Ende einen Preis vergeben, aber lassen Sie mich ein wenn auch begrenztes Bild dieser Vielfalt zeichnen.


Der Film Davos unter der Regie von Daniel Hoesl und Julia Niemann (Österreich 2020) fasste alle Sorgen der Welt in einem filmischen Kaleidoskop zusammen: von den Ställen eines kleinen, um die Existenz ringenden Milchviehbetriebs bis zu den Bühnen der Weltpolitiker, von den portugiesischen Migranten, die die Nobelhotels putzen, bis zu den selbstbewussten Regionalpolitikern im Anzug, von den Jägern in den Bergen bis zu den Jugendlichen, die sich in einem Asylbewerberheim vor ihrer Abschiebung fürchten. Das alles in der kleinen Stadt Davos mit kaum 11.000 Einwohnern und mit dem Weltwirtschaftsforum als Höhepunkt des Jahres. Von grossen politischen Themen bis hin zu den alltäglichen Problemen der einfachen Leute.


Ein weiterer in der Schweiz gedrehter Film griff wieder politische und persönliche Themen auf: NEMESIS von Thomas Imbach (Schweiz 2020). Viele Jahre lang verfolgte er den Abriss des alten Güterbahnhofs im Zentrum von Zürich und den Bau einer riesigen Polizeistation und eines Gefängnisses für Asylsuchende an gleicher Stelle. Mit diesen Bildern schuf er ein Ballett mit einer rhythmischen Symphonie der Baumeister, der riesigen Maschinen und der einsamen Besucher wie junge Schelme, die auf die Überreste klettern, und einem einsamen und neugierigen Fuchs. Unter diesen hypnotisierenden Bildern hören wir Imbachs sehr persönlichen Text, und neben ihm hören wir die Zeugenaussagen von inhaftierten Flüchtlingen, die in der Schweiz Asyl suchen und von ihren Nöten im Gefängnis - wozu dieser unmenschlich gewaltige Betonhaufen letztlich auch benutzt wird.


Ein Film, bei dem die Ästhetik nicht die Hauptrolle spielte, war Punta Sacra von Francesca Mazzoleni (Italien 2020), in dem wir - fast buchstäblich - in eine kleine Gemeinschaft eintauchen, die zwischen tyrrhenischem Meer, Tiber und der Bedrohung durch die Behörden lebt, welche die kleine Stadt abreissen wollen. Ein sehr intimes Porträt mehrerer starker Frauen, die versuchen, zu überleben und ihre Werte an die nächste Generation weiterzugeben. Der Film erhielt den Hauptpreis des Visions du Réel, die Goldene Sesterze für den besten langen Dokumentarfilm.

Dann gab es sehr poetische Filme wie Amor Fati von Cláudia Varejão (Portugal, Schweiz, Frankreich 2020), sehr persönliche und intime Filme wie Non Western von Laura Plancarte (GB, USA, Mexiko 2020), fast abstrakte Filme, die einem die Realität näher brachten, als wenn sie die reale Welt gezeigt hätten: Purple Sea von Amel Alzakout und Khaled Abdulwahed (Deutschland 2020). Absolut all die verschiedenen Visions du Réel - Visionen der Wirklichkeit, die man sich vorstellen kann. Dennoch mussten wir eine harte Wahl treffen, und der Preis der Interreligiösen Jury ging an Fuera del camino (Off the Road, Mexiko, USA 2020) von José Permar. Sie können an anderer Stelle auf dieser Website unseren Bericht über diesen wunderbaren Film lesen, der uns in freudige Stimmung versetzte und mit Hoffnung für die Zukunft zurückgelassen hat.

Es wäre zu viel verlangt, die vielen Filme zu beschreiben, die uns berührt haben, also finden Sie einen Weg, sie sich selbst anzuschauen und nachträglich unsere Erfahrungen zu teilen. Hoffentlich können wir uns nächstes Jahr alle gemeinsam neue Filme ansehen und anstatt hinter unseren Computern bequem in den Kinos von Nyon sitzen.

Übersetzung: Blanca Steinmann