„De Profundis“ (Aus der Tiefe) oder Schreie aus der Einsamkeit

Bericht über das Filmfestival in Locarno 2016. Von Jurypräsident Werner Schneider-Quindeau

Die Ökumenische Jury war neugierig und gespannt auf die Filme des Wettbewerbs des 69. Filmfestivals in Locarno und auf der Suche nach ethisch und ästhetisch gelungenen „Gleichnissen des Lebens“, in denen der Mensch mit seinen Fragen und seiner Sinnsuche erkennbar wird. Von Japan über Ägypten, von Buenos Aires nach New York über Bulgarien und Thailand ging die filmische Reise durch Kulturen, familiäre und intime Situationen bis zu Krankheit und Tod. Im Rückblick zeigte sich, dass ein Thema von vielen der gezeigten Filme die Einsamkeit der Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen ist. Wie „Schreie aus tiefster Not“ wirkten die Filme, indem sie das Leiden an gestörten und zerstörten Beziehungen vor Augen stellten. Das Drama der Einsamkeit bildete immer wieder den Hintergrund der filmischen Erzählungen, die das Festival zeigte.


„Godless“ von Ralitza Petrova, der den Preis der Ökumenischen Jury und den Goldenen Leoparden der Internationalen Festivaljury erhielt, erzählt von Gana, die in einer entlegenen bulgarischen Stadt ältere Demenzkranke betreut und ihnen ihre Identitätskarten stiehlt, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Als Kind wurde sie sexuell missbraucht, mit ihrer arbeitslosen Mutter spricht sie kaum und mit ihrem Freund teilt sie die Morphiumsucht. Nichts in dieser verwahrlosten Welt scheint sie zu berühren, auch nicht der Mord an einem ihrer Patienten. Doch das Singen von Yoan, der neu zu ihrem Kreis der Betreuten gehört, lässt ihr Mitgefühl erwachen. Als dieser verhaftet wird, weiß sie, dass sie so nicht weiter leben kann. Aber „das Richtige zu tun“ hat einen hohen Preis. Angesichts von Armut und Einsamkeit scheint es keinen Ausweg und keine Hoffnung aus der gesellschaftlichen Verelendung zu geben. Mit dem 42. Psalm teilt der Film die Sehnsucht nach Gott, der aber nicht rettend eingreift. „Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?“ (Ps. 42,11)

Es ist der gern überhörte und verdrängte Ton der Klage über das Leid und die Not, der in vielen Filmen des Wettbewerbs zu hören war. Auch die von der Jury mit einer Empfehlung ausgezeichneten Filme, nämlich „Marija“ von Michael Koch und „Mister Universo“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel, machen die Einsamkeit und das damit verbundene Leiden zum Thema. Die junge Ukrainerin Marija arbeitet als Reinigungskraft in einem Hotel in Dortmund und träumt von einem eigenen Friseursalon. Als ihr gekündigt wird, sieht sie sich gezwungen, ihren Körper, ihre sozialen Beziehungen und auch ihre eigenen Gefühle ihrem Traumziel unterzuordnen. Migrationserfahrung und Überlebenskampf führen in die Einsamkeit, die ein hohes Maß an Ausdauer und Durchhaltewillen verlangt. Mit den Worten des 42. Psalms: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?“ (Ps. 42,12)


„Mister Universo“ erzählt die Geschichte des jungen Löwendompteurs Tairo, der mit seinem Leben unzufrieden ist. Als er seinen Talisman verliert, lässt er seinen Zirkusalltag hinter sich und macht sich auf den Weg zu Arthur Robin, einem ehemaligen Mister Universum, der ihm den Glückbringer vor langer Zeit geschenkt hat. Auch die Suche nach dem Glück macht einsam; die Magie des Zirkus garantiert nicht Geborgenheit und Sicherheit. Im Gegenteil: Die Risiken für den Einzelnen sind groß, das Glück und den Sinn des Lebens in der Manege nicht zu finden. „Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?“ (Ps. 42,4). Keiner der Filme macht das Gottvertrauen explizit zum Thema, aber implizit wird die verzweifelte Frage nach Gott angesichts erfahrener Gottlosigkeit in vielerlei Form gestellt.

Zerstörte oder gestörte Familienstrukturen stehen im Mittelpunkt von „Brooks, Meadows and Lovely Faces“ von Yousry Nasrallah aus Ägypten und „The Last Family“ von Jan P. Matuszynski. Selbstbestimmung und Bindung sind die Pole, die Familien zerreißen können, so dass die Einzelnen oft genug einsam zurückbleiben. Zwischen Tradition und Aufbruch wird die Klage laut, wo der ersehnte Ort für eiegnen Gefühle, Träume und Wünsche zu finden ist. Auch in „Hermia & Helena“ von Matias Pineiro aus Argentinien wird auf dem Weg von Buenos Aires nach New York der Verlust des Freundeskreises beklagt, der in der neuen Welt nicht zu kompensieren ist. Heimweh und Einsamkeit sind die Folge. Ortssuche, Heimweh und Einsamkeit zeigen sich auch in „Bangkok Nites“ von Katsuya Tomita aus Japan, „By the Time It Gets Dark“ von Anocha Suwichakornpong aus Thailand und „Der traumhafte Weg“ von Angela Schanelec aus Deutschland.


Die Suche nach der eigenen Identität wird zu einer leidvollen Erfahrung, weil das Gegenüber fehlt und die Fülle der losen oder festen Beziehungen die Menschen überfordern. Auch Sexualität überwindet die Einsamkeit nicht, wie Shiota Akihiko aus Japan in „Wet Woman in the Wind“ deutlich macht. Die Suche einer Tochter nach dem verschwundenen Vater in „La idea de un lago“ von Milagros Mumenthaler aus Argentinien, bei der sie Mutter und der Bruder entdeckt, spürt den Orten in der Kindheit nach, die verloren gegangen sind. Wie in einem Puzzle werden Bruchstücke der Erinnerung zusammengesetzt, um sich selbst und die eigene Welt besser zu verstehen. Doch das Fragmentarische bleibt und ist immer wieder Grund zur Klage. „Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?“ (Ps. 42,10)

Wie eine Klageliturgie lässt sich das Programm des 69. Filmfestivals von Locarno wahrnehmen. Heimweh („Correspondencias“ von Rita Azevedo Gomes aus Portugal), Krankheit („Scarred Hearts“ von Radu Jude aus Rumänien) und der Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und persönliche Würde („Slava“ von Kristina Grozeva aus Bulgarien) verdichten die Erfahrungen der Einsamkeit zu solchen „Schreien aus tiefster Not“. Indem der Klage und dem Protest, der Kritik an elenden Zuständen und dem Blick in die Abgründe des Einzelnen und der Gesellschaft eine Bühne geboten wird wie im Wettbewerb von Locarno, leistet das Festival einen unverzichtbaren Beitrag zur kulturellen, sozialen und politischen Selbstverständigung der Gesellschaft. Es übernimmt gleichsam die Rolle einer prophetischen Stimme, die Missstände benennt, das Leid sichtbar macht und die Fragen nach seiner Überwindung stellt.


Filme als „Gleichnisse des Lebens“ blicken durch die Oberfläche hindurch in die Tiefe, um dem Geist oder dem Ungeist der jeweiligen Zeit auf die Spur zu kommen. Für die Kirche ist es eine besondere Herausforderung, die prophetischen Stimmen wahrzunehmen, die in einer säkularen Welt zu hören sind. Es ist nicht die eigene, kirchliche Stimme, sondern es sind die Worte und Bilder anderer, die oft sehr viel aufmerksamer die Gottlosigkeit und die Sehnsüchte der Menschen erfassen. Kirche muss ihre eigene Blindheit erkennen, damit ihr die Augen und die Ohren für die Bilder der Einsamen und die Klagerufe der Ungehörten geöffnet werden können.

In „La Prunelle de mes yeux“ von Axelle Ropert aus Frankreich ist es die blinde Elise, die Theo erst die Augen für die Liebe öffnet, indem sie ihn nahezu unerträglich provoziert. Der „Augapfel“ erhält so eine völlig neue Bedeutung. Er ist nicht mehr nur ein liebenswertes Objekt, sondern wird zum Ausgangspunkt eines völlig neuen Sehens trotz aller Blindheit. Festivals können Orte der Prophetie sein, indem das Publikum zum „Augapfel Gottes“ wird, das den Stimmen der Klage und der Not seine Augen und sein Gehör schenkt. Die Ökumenische Jury jedenfalls hat diese Öffnung der Augen und Ohren, des Herzens und des Verstandes geistig-geistlich sehr intensiv erfahren.